Das Umspannwerk Wien Südost hat eine ganz besondere Bedeutung für die Stromversorgung in Europa. Denn es liegt mitten im Regelgebiet des österreichischen Übertragungsnetzes von Austrian Power Grid (APG) und im Herzen Europas. Es ist außerdem ein zentraler Bestandteil des Hochspannungsrings in Österreich, der den Strom aus den Ökoenergiekraftwerken im Osten der Alpenrepublik in die Pumpspeicherkraftwerke im Westen Österreichs transportieren wird. Hier ist auch die Leitzentrale untergebracht. Wie ein Raumschiff mitten auf der grünen Wiese mutet das moderne Gebäude auf dem Gelände im Stadtteil Oberlaa der österreichischen Hauptstadt an.
63 Umspannwerke steuern
Das Innere ist vollgestopft mit modernster Technik. Von hier aus überwachen die Mitarbeiter von Austrian Power Grid die Hauptschaltleitung und das gesamte Übertragungsnetz der Regelzone der Alpenrepublik.
Sie überwachen und steuern zudem die 63 Umspannwerke, die im österreichischen Übertragungsnetz die Zu- und Ableitung zwischen Höchstspannung und Versorgungsnetz darstellen. In der Leitzentrale werden die Prognosen der Stromerzeugung und des Stromverbrauchs verwaltet. Hier kommt jeder Netzfehler ans Licht. Falls Engpässe oder unvorhergesehene Störungen auftreten, veranlassen sie die notwendigen Gegenmaßnahmen.
Den permanenten Ausgleich zwischen Stromerzeugung und Stromverbrauch halten sie mit Regelleistung stabil, die abgerufen wird, wenn die Netzfrequenz einen vorgegebenen Wert über- oder unterschreitet.
Mehr Netzfehler registriert
Doch es gibt noch kleinere Netzfehler und niederfrequente Systemoszillationen. Letztere sind kleine Frequenzschwingungen, die von Kurzschlüssen, sprunghaften Änderungen der Impedanz, also des Verhältnisses zwischen Spannung und Stromstärke, aber auch einfach nur Schalthandlungen im europäischen Netz verursacht werden. Diese Fehler sind zwar nur gering, können sich aber trotzdem massiv auf die Stabilität des europäischen Energie- und Stromsystems auswirken.
Sowohl die Impedanzsprünge als auch die Systemoszillationen nehmen laut Messungen der Übertragungsnetzbetreiber in Europa in den letzten Jahren weiter zu. Um diese zu erkennen, haben sie ein Wide Area Measurement System (WAMS) installiert.
Frequenzschwankungen ausgleichen
Das kann solche minimalen Netzfehler und die Systemoszillationen in ganz Europa in Echtzeit messen. Zum anderen registrieren die Übertragungsnetzbetreiber immer mehr kleine Schwankungen im Netz. Die wurden bisher von den großen rotierenden Massen ausgeglichen, die die Turbinen in den konventionellen Anlagen und in den Wasserkraftwerken mitbringen. Sie walzen sozusagen die Frequenzschwankungen platt.
Sie sorgen so dafür, dass das Netz nicht sofort aus dem Ruder läuft. „Dass immer mehr konventionelle Kraftwerke vom Netz gehen, ist ein Fakt. Infolgedessen gibt es im Gesamtsystem immer weniger natürliche Schwungmasse, die Systemträgheit nimmt ab”, erklärt Michaela Leonhardt. Sie leitet ein Forschungsprojekt, mit dem die APG unter anderem untersucht, inwieweit diese Schwungmasse mittels eines Batteriespeichersystems ergänzt werden kann.
Schwungmasse wird virtuell
Dafür hat der Übertragungsnetzbetreiber zwei große Container neben die Schaltzentrale im Umspannwerk Wien Südost gestellt. Darin sind viele Batteriezellen von LG Chem untergebracht, die zusammen immerhin 500 Kilowattstunden Strom zwischenlagern können. Sie können den Strom aus dem Netz mit einer Leistung von einem Megawatt einspeichern und ihn bei Bedarf mit der gleichen Leistung wieder ins Netz drücken.
Die Idee hinter dem Entwicklungsprojekt mit dem Namen ABS4TSO ist, die Schwungmasse, die die rotierenden Generatoren bisher geliefert haben, in Zukunft virtuell mittels Batteriespeichersystemen und deren Wechselrichtern bereitzustellen. ABS steht hier für Advanced Balancing Services. „Wie das ABS im Auto hat der Speicher hier die Aufgabe, das System in herausfordernden Situationen in der Spur zu halten“, beschreibt Michaela Leonhardt den Ansatz.
Stabiles Verteilnetz reicht nicht
Die Photovoltaikanlagen, die in Zukunft die Stromerzeugung mit übernehmen sollen, erzeugen den Strom nicht nur wetterabhängig. Sie bringen zudem keine natürlichen Schwungmassen mit. Außerdem sind sie in der Regel am Verteilnetz angeschlossen.
Dadurch wird es schwieriger, die Systemoszillationen und kleinen Frequenzschwankungen auf der Übertragungsnetzebene auszugleichen. „Für uns als Übertragungsnetzbetreiber ist das Verhalten im Verteilnetz zwar wichtig. Trotzdem haben wir Herausforderungen, die wir mit einem ausgeglichenen Verteilnetz nicht lösen können“, betont die Projektleiterin. „Hier geht es um die feinsten und kleinsten Abweichungen im Übertragungsnetz, die bisher vom System ausgeglichen wurden.“
Dynamisch reagieren
Da es sich bei den Fehlern im Netz, die mit der Schwungmasse ausgebügelt werden, um extrem dynamische Effekte handelt, muss der Speicher innerhalb von Sekundenbruchteilen auf sie reagieren, noch bevor die Regelleistung einspringt. „Um die Reaktionszeiten von wenigen Millisekunden zu erreichen, müssen wir die Parameter des Systemwechselrichters auf diese hochdynamischen Bedürfnisse im Übertragungsnetz anpassen. Denn die Standardwechselrichter reagieren zwar schnell, jedoch nicht schnell genug, um virtuelle Schwungmasse bereitzustellen“, sagt Leonhardt. Es war auch nicht so einfach, einen entsprechenden Wechselrichter zu finden, dessen Hersteller erlaubt, dass das Forscherteam der APG die Parameter selbst einstellt. Aber die Entwickler wurden fündig und haben einen Inverter gefunden, mit dem das möglich ist.
Mehrere Funktionen steuern
Um auszutesten, ob der Speicherwechselrichter die geforderten Reaktionszeiten erreicht, haben die Forscher des AIT Austrian Institute of Technology, einer der Partner im Entwicklungsprojekt, die Leistungselektronik noch einmal unter die Lupe genommen. Sie haben geprüft, ob sie den vorgegebenen Spezifikationen entspricht.
Jetzt muss der Speicher und vor allem dessen Leistungselektronik zeigen, dass er das Energie- und Stromsystem so stabilisieren kann, wie das bisher die rotierenden Massen der konventionellen Kraftwerke getan haben. Im Feldbetrieb wollen die Entwickler von APG und deren Forschungspartner jetzt herausfinden, ob der Speicher gleich mehrere Funktionen übernehmen kann – künstliche Schwungmasse liefern, eine Regelleistung bereitstellen, die noch schneller als die Primärregelleistung reagiert, und die niederfrequenten Systemoszillationen ausgleichen.
Mehrere Probleme gleichzeitig lösen
Schon das ist nicht einfach. Der Ansatz der Österreicher geht aber noch weiter. „Das System soll auf jede dieser Herausforderungen sowie auf Kombinationen daraus reagieren. Das haben wir bisher schon mit diversen Computersimulationen geprüft und daraus Vorgaben für das System im Feld abgeleitet“, sagt Michaela Leonhardt. Das bedeutet, dass der Speicher auf die verschiedenen Probleme im Übertragungsnetz unterschiedlich schnell und auf verschiedene Weise reagieren muss.
Das ist im Feld nicht so einfach. Denn es kann durchaus vorkommen, dass mehrere Probleme parallel auftreten. Dann muss die Leistungselektronik entscheiden, welche Herausforderung sie zuerst angeht oder ob sie verschiedene Probleme gleichzeitig lösen kann. Außerdem muss sie sicherstellen, dass nicht gleichzeitig durch die Reaktion auf einen Netzfehler das andere Problem verschlimmert wird.
Im Labor weiterentwickeln
Das soll außerdem noch vollautomatisiert geschehen. „Wie haben die Interaktionen zwischen den einzelnen Funktionen, die der Speicher erfüllen soll, schon im Computer und mit dem Speichersystem selbst im Labor getestet“, erläutert Leonhardt. „Dabei haben wir intelligente Algorithmen entwickelt und jetzt schauen wir uns an, wie sie im Feld mit realen Frequenzaufnahmen funktionieren.“
Der Speicher in Wien ist derzeit nur ein Testprojekt. „Denn mit einem Megawatt Leistung und 500 Kilowattstunden Kapazität werden wir das europäische Verbundnetz natürlich nicht stützen können“, betont die Projektleiterin. „Wir schauen uns erst einmal an, ob der Speicher im realen Betrieb so funktioniert, wie wir es simuliert haben. Danach werden wir die Ergebnisse aus dem Feldversuch nehmen und diese noch einmal zurück ins Labor geben, um die Algorithmen weiter zu präzisieren, wenn das notwendig ist.“
Die ersten Ergebnisse aus dem Entwicklungsprojekt werden im April 2021 vorliegen. Im Zuge des Projekts wird sich die APG die Wirkung des Batteriespeichers als Lieferant von Systemdienstleistung anschauen und mit anderen Technologien vergleichen. Außerdem untersucht der Netzbetreiber, wie diese Lösung hochskaliert im gesamten europäischen Übertragungsnetz funktionieren kann.
PV Austria
Speicher – die neuen Dienstleister fürs Netz?
Können Speicher für Mittel- und Niederspannungsnetze stabilisierende Funktionen übernehmen und sogar teilweise den Netzausbau reduzieren? Diese Frage war unter anderem ein Thema auf der diesjährigen Speicherkonferenz des österreichischen Branchenverbandes PV Austria. Immerhin müssen volatil einspeisende Photovoltaikanlagen mit einer Gesamtleistung von 15 Gigawatt einen Großteil der Stromversorgung in der Alpenrepublik übernehmen, um die von der Regierung in Wien angestrebte Vollversorgung mit Ökostrom zu schaffen.
Das wird die Netze, an denen die Solargeneratoren angeschlossen sind, zusätzlich belasten. Dazu kommt noch die Elektromobilität. Hier könnten viele kleine Heimspeicher unterstützend eingreifen. „Das ist allerdings nur begrenzt möglich“, sagt Andreas Abart von Netz Oberösterreich. „Denn selbst wenn die Rahmenbedingungen und die technischen Lösungen vorhanden sind, können die Speicher zeitabhängig entweder netz- oder marktdienlich eingesetzt werden. Beides gleichzeitig geht in der Regel nicht.“
Einheitlich kommunizieren
Doch noch bemängelt die Branche vor allem die fehlende Kommunikation. „Denn derzeit sind die Speicher in ihrer Betriebsweise völlig undefiniert. Jeder Hersteller bietet da eine eigene Fahrweise an“, sagt Thomas Becker, Geschäftsführer des Tiroler Projektierers ATB Becker. „Wir brauchen definierte Ladestrategien, damit die Speicher überhaupt Aufgaben im zukünftigen Stromnetz übernehmen können.“
Dieses Stromnetz wird auf jeden Fall intelligenter werden müssen. Doch auch da sind die Speicherhersteller noch nicht optimal aufgestellt. „Denn im Smart Grid kommt zu den eigentlichen Stromkabeln noch die Kommunikation hinzu“, erklärt Angela Berger, Geschäftsführerin des Vereins Technologieplattform Smart Grids Austria. „Das gibt es sehr viele Standards, aber auch viele Lücken in der einheitlichen Kommunikation.“ Die Plattform hat deshalb im Januar dieses Jahres einen sogenannten Connectathon durchgeführt.
Dabei geht es darum, Hersteller miteinander zu vernetzen. Diese haben vorher ihre Kommunikationsstandards definiert. Auf der dreitägigen Veranstaltung konnten sie dann austesten, wie ihre Geräte mit anderen Anwendungen kommunizieren. „Die Ergebnisse dieser Peer-to-Peer-Tests versuchen wir jetzt österreichweit in realen Anwendungen umzusetzen“, sagt Berger.