Herr Ulbig, Sie sind nebenberuflich Stellvertretender Präsident der Schweizerischen Energie-Stiftung. Wie weit ist die Energiewende bei den Eidgenossen?
Andreas Ulbig: Das hängt davon ab, welchen Ausschnitt des Bildes man betrachtet. Der Anteil an Ökostrom ist weitaus höher, alleine die Wasserkraft macht rund 60 Prozent aus. Die übrigen 40 Prozent liefert im Gros die Kernenergie. Die Schweizerische Energie-Stiftung ist im Kern eine Anti-AKW-NGO. Beim Atomausstieg gibt es noch einiges zu tun, um die restlichen Prozentpunkte durch Photovoltaik und Windenergie zu ersetzen, keine Frage. Den Großteil davon muss aus geografischen Gründen allerdings die Solarenergie alleine stemmen. Derzeit ist deutlich mehr als ein Gigawatt installiert. Der Branchenverband geht von einem Zubau im Jahr 2019 von um die 300 Megawatt aus. Das ist schon recht ordentlich, wenn man die Einwohnerzahlen in ein Verhältnis von 1 : 10 setzt. Das entspricht dann mit rund drei Gigawatt dem Zubau im vergangenen Jahr in Deutschland.
Was kann Deutschland von der Schweiz lernen?
Im Wärmesektor ist die Schweiz einen deutlichen Schritt voraus, weil bereits 250.000 Wärmepumpen installiert sind. Die waren seit 1990 stark im Fokus der staatlichen Förderung, um den billigen Überschussstrom aus Wasser- und Kernkraft zu puffern. Bei Neubauten im Kanton Zürich haben neun von zehn Gebäuden eine Wärmepumpe. Die restlichen Neubauten sind dann meist an ein Fernwärmenetz angeschlossen. Zudem sehen die neuen Regelungen sowohl Eigenstromerzeugung als auch einen gewissen Anteil erneuerbarer Wärmeerzeugung vor. Leider ist Energieeffizienz in Gebäuden nur ein kantonales Thema, das sehr unterschiedlich behandelt wird. Neben der Wärme sind die Eidgenossen auch bei der Elektromobilität ein gutes Stück voraus. Die Schweizer fahren zudem deutlich mehr mit der Bahn, gerade zwischen Basel, Bern und Zürich.
Smart Meter sind im Nachbarland bereits verstärkt installiert. Was bedeutet das für das Nutzerverhalten der Verbraucher?
Seit 2018 gibt es das Mandat vom Bundesamt für Energie, kurz BfE, die Smart Meter auszurollen. Sie sollen explizit für netzdienliche Zwecke eingesetzt werden. Aber auch schon davor wurden digitale Zähler installiert und nachträglich mit einem Kommunikationsmodul versehen. Die Stadt Basel hat 2013 damit angefangen, jeder zweite Hausanschluss verfügt nun über einen Smart Meter. 60.000 Geräte liefern aktiv Daten.
Wie viele Smart Meter sind derzeit installiert?
In der gesamten Schweiz laufen bisher rund 500.000 Geräte. Unter den mehr als zwei Millionen elektronischen Zählern dürften aber viele Geräte sein, denen bisher nur noch ein Gateway fehlt. In der Schweiz soll jeder Haushalt mit einem Smart Meter ausgestattet werden, nur saisonale Berghütten und Straßenbeleuchtungen will man nicht erfassen. Das Ziel lautet 98 Prozent Flächenabdeckung mit dynamischen Stromtarifen. Ein angebots- und nachfrageabhängiger Strompreis wäre ein wichtiges Signal für die Energiewende.
Alle Haushalte sollen also erfasst werden. Man hat sich nicht zuerst die größten Verbraucher rausgesucht?
Genau. Üblicherweise wurden ganz pragmatisch ganze Quartiere und Gebäude mit digitalen Zählern ausgestattet, damit der Installateur kein weiteres Mal rausmuss. Die Kosten des Rollouts werden so reduziert, weil die Arbeitsstunde deutlich stärker ins Gewicht fällt. Der neue Zähler ersetzt zudem mehrere Zähler und kann einzelne Geräte wie eine Wärmepumpe trotzdem separat abrechnen.
In Deutschland hakt es derzeit bei der Zertifizierung von smarten Zählern, die Vorgaben machen den Ausbau komplex und teuer. Welchen IT-Sicherheitsstandard hat die Schweiz gewählt?
Die sensiblen Stellen im Stromnetz sind nicht die Haushalte, sondern die großen Kraftwerke und Verteilerknoten, wo Transformatoren stehen. An diesen Stellen lässt sich schnell einiger Schaden anrichten. Dennoch wird die Sicherheit in der Schweiz natürlich ernst genommen, ist in der Diskussion aber kein großes Thema. Die Kommunikation läuft meist über die Rundsteuerung der Netzbetreiber und damit auch über die Stromleitungen, im städtischen Umfeld oft kombiniert mit Glasfaseranschlüssen. Die Kommunikation läuft so nicht direkt über das Internet, sondern über einen separaten Kanal. Die Sicherheitsanforderungen wurden vom BfE zusammen mit den Herstellern der Branche erarbeitet. Es existieren Richtlinien vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen. Das Eidgenössische Institut für Metrologie prüft die Einhaltung der Richtlinie.
Das Verteilnetz in Deutschland ist größtenteils eine Blackbox, heißt es.
Im gesamten deutschsprachigen Raum wissen die Netzbetreiber flächendeckend sehr gut bis hin zum Hausanschluss, was sie verbaut haben. Es gilt in allen DACH-Ländern die Vorgabe, zu dokumentieren und die Geoinformationssysteme zu pflegen. Rund 98 Prozent der Infrastruktur sind bekannt, und das ist auch in Ordnung. Es muss nicht jeder Kabeltyp bekannt sein. Das Material wäre eine gute Basis, um Netzberechnungen durchzuführen. Ein Teil der Daten muss aber noch digitalisiert werden, in gut fünf Jahren könnte dieser Prozess abgeschlossen sein. Es hapert aber noch an fehlenden Sensoren im Netz.
Können die Sensoren der vielen installierten Wechselrichter nicht die Transparenz im Netz erhöhen?
Die Wechselrichter erfassen in der Tat viele Daten. Hersteller wie SMA bewirtschaften diese nun auch stärker. Die Netzbetreiber könnten einige Erkenntnisse aus den Daten der Anlagen in ihrer Region ziehen. Auf aggregierter Ebene lassen sich daraus Schlüsse ziehen. Die Netzprobleme in einem Dorf werden so nicht ersichtlich. Dafür wären flächendeckende Messungen an den Stromentnahmepunkten nötig.
Warum sind die Stromnetze in der Nieder- und Mittelspannung schwerer zu digitalisieren?
Das Übertragungsnetz in der Schweiz umfasst rund 6.000 Kilometer. Das Verteilnetz erstreckt sich über 250.000 Kilometer und ist somit mehr als 40 Mal größer. In Deutschland ist das Verhältnis ähnlich. Das Höchst- und Hochspannungsnetz ist quasi nur die Spitze des Eisbergs. Das Netzmodell der Leitstelle wird bei der Installation für viel Geld teils manuell programmiert. Das ist auf dieser Ebene auch in Ordnung. Bei den Millionen Netzknoten im Verteilnetz wäre der Aufwand viel zu hoch und zu teuer. Hier muss man verstärkt mit Automatisierung arbeiten. Wichtig ist es, Änderungen und Bauarbeiten dynamisch zu erfassen, damit der Netzplan immer aktuell bleibt.
Welche Erkenntnisse hat Ihr Pilotprojekt in Basel gebracht?
Unerwartet häufig stimmten die Netzdaten nicht mit der Netzberechnung überein, weil es Baustellen gab oder Netze anders geschaltet waren. Unser Projekt in Basel zeigt, dass Algorithmen helfen, das zu identifizieren und zu korrigieren.
Wie kann Big Data helfen, Netzausbau zu vermeiden?
Es ist doch so: In der Vergangenheit bis heute nutzt jeder das Stromnetz, wie er will. Das geht da noch ganz gut, wo keine physischen Grenzen im Verteilnetz erreicht werden. Die Übertragungsnetzbetreiber sind schon weiter, sie nutzen unter anderem Prognosen für Lasten sowie für Wind- und Photovoltaikerträge. Große Städte wie Hamburg oder Berlin, aber auch Flächennetzbetreiber brauchen genauere Prognosen, wenn die Netze nicht der Engpass in der Energiewende werden sollen. Bisher sieht der Verteilnetzbetreiber nix oder nur wenig, was in seinem Netz passiert. Aus diesem Grund plant er konservativ und verlegt instinktiv zu viel Kabel in den Boden. Mit einem Monitoring kann das Stromnetz künftig definitiv viel besser ausgelastet werden. Auch wenn nur 98 Prozent der Infrastruktur erfasst werden, ließe sich damit deutlich besser arbeiten als auf dem vorherigen Stand einer Blackbox.
Durch das kluge Datenmanagement werden also Fehlinvestitionen vermieden?
So ist es. Einmal verlegte Kabel wird man nicht wieder aus dem Boden holen. Aber ein Trafo könnte an eine Stelle versetzt werden, wo er dem Netz besser hilft. Die Lebensdauer des Trafos wird dadurch nicht beeinflusst.
Wie smart muss das Verteilnetz künftig sein?
In den kommenden Jahren wird sich das Bild immer mehr nachschärfen. Aber es gibt nicht nur schwarz und weiß. In der Messtechnik spricht man analog von Blackbox oder Whitebox. Alles wird und muss der Netzbetreiber nicht wissen, das wird auch durch ökonomische Grenzen bestimmt. Die Mehrinformationen stehen dann in keinem Verhältnis mehr zu den Kosten.
Das Interview führte Niels Hendrik Petersen.
adaptricity.com
Andres Ulbig
ist Mitgründer und operativer Geschäftsführer von Adaptricity, einer Ausgründung der Uni ETH Zürich. Das Start-up hat sich auf Softwaretools für Netzbetrieb und Netzplanung spezialisiert. Nebenberuflich arbeitet er als Dozent für elektrische Stromsysteme an der ETH Zürich und ist Vizepräsident der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES). Er studierte Technische Kybernetik an der TU Hamburg-Harburg, der Universität Stuttgart, an der Supélec in Paris und am Caltech in Kalifornien. Er promovierte am Power Systems Lab der ETH Zürich.