Um es vorweg zu nehmen: Die Ukraine spielt im großen Gasgeschäft nur eine untergeordnete Rolle: als Transitland, als unbedeutender Weltflecken, der von russischen Pipelines überbrückt werden muss. Zu Zeiten des Ostblocks galt solcherart Bruderdienst als ehrenhaft.
Kein Problem, Towarischtschi! Also wurde die Baikal-Amur-Magistrale von jungen Ossis im Blauhemd zusammengeschweißt, mit Rohren aus Westdeutschland. Die BAM war das größte Abenteuer, dass die kleine DDR zu bieten hatte – ab nach Sibirien, Genossen, in die Weite der Taiga, zu Lagerfeuern, niedlichen Matkas und Wodka Stogramm!
Drei Pipelines liefern Gas
Die BAM sollte die kleine DDR mit Erdgas versorgen, nun versorgt sie das ganze große Deutschland – eigentlich ganz Westeuropa. Daneben gibt es noch eine Pipeline aus Russland und Belorussland nach Polen, sowie Nord Stream 1 durch die Ostsee.
Alle drei Pipelines zusammen lieferten im Jahr rund 129,8 Milliarden Kubikmeter Erdgas, davon 55,9 Milliarden Kubikmeter über die Unterwasserroute im Norden und 25,4 Milliarden Kubikmeter über die polnische Yamal-Europe-Ader. Soll heißen: Das Gros läuft über die Ukraine.
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Dreht Gasprom den Hahn zu?
Nun ist die zweite baltische Pipeline Nord Stream 2 fertig. Ausgerechnet ihre Inbetriebnahme löste einen internationalen Konflikt aus. Erstaunlich eigentlich, denn die anderen drei Pipelines laufen im Prinzip unter Volllast. Wer mehr Gas haben will, braucht mehr Kapazitäten.
Zwar gab es in den vergangenen zwei Jahren gewisse Schwankungen bei den Gaslieferungen, aber das Geschäft lief stabil. Keine Anzeichen, dass Gasprom den Hahn abdreht. Dass die Preise stiegen, hat mit den Schwankungen nur wenig zu tun. Hier wirken sich vor allem die steigende Nachfrage und die CO2-Besteuerung aus. Allein die europäische Industrie dürfte 2022 rund 102 Milliarden Kubikmeter Gas abnehmen.
Was meinte Joe Biden?
Ausgerechnet in dem Augenblick, als Erdgas durch Nord Stream 2 nach Europa rauschen sollte, schaukelten gewisse Kreise die Krise zwischen der Ukraine und Russland hoch. Anders kann man es nicht nennen, wenn ein US-Präsident plötzlich für amerikanisches Flüssiggas (LNG) wirbt, wenn er damit droht, die Pipeline durch die Ostsee „stillzulegen“.
Was meint er damit? Ein Bombardement auf Lubmin bei Greifswald, wo die Rohre anlanden? Meinte er einen geheimen Einsatz seiner Navy Seals, so mit Zeitzündern und Spezialgranaten? Wie legt ein US-Präsident eine deutsch-russische Pipeline lahm?
Amerikanische Sanktionen gegen Nord Stream 2 werden von amerikanischen Truppenbewegungen flankiert, die NATO erweitert ihr Einsatzgebiet bis in die Ukraine. Der Kremlchef seinerseits lässt Truppen aufmarschieren, in der eiskalten Ebene der Wolga.
Drohgebärden auf beiden Seiten, schreiende Lettern in der Gazetten. Und wenn man manche deutsche Politiker hört, wie sie vor der russischen Gefahr warnen, wie sie „den Kreml“ warnen, dann fühlt man sich an Joseph Goebbels erinnert. Da steckt was ganz tief in den Hirnen, da rühren sich panische Ängste, über Generationen gepflegt: Zähnefletschende Horden bedrohen das Abendland! Mal unter uns: Geht‘s noch?!
Die Druckpunkte der Zaren
Putin reagiert, wie die (roten) Zaren immer reagieren, wenn der Westen ihre Druckpunkte aktiviert. Bei aller Herrlichkeit des Kremls: Ein Einmarsch in die Ukraine nützt ihm nichts. Der Donbass mit seinen veralteten Kohlerevieren ist nichts wert, da ist nichts zu verdienen. Alles Schrott. Sonst hätte Putin längst zugeschlagen.
Und die halbe Bevölkerung der Ukraine sind ohnehin Russen oder stammen von russischen Vorfahren ab. Am Ende ist ihnen egal, ob sie von korrupten Behörden in Kiew oder von korrupten Behörden in Moskau reagiert werden. Will er sich den Sarkophag von Tschernobyl unter den Nagel reißen? War einst ja ein sowjetisches Prestigeobjekt …
Es geht um Märkte, nicht um Land
Nein, es geht nicht um Land oder Kohlegruben, es geht um den westeuropäischen Gasmarkt. Spät sind die Amerikaner aufgewacht, weil US-Präsident Donald Trump keinen Konflikt mit dem Kreml riskieren mochte. Wir erinnern uns an die TV-Bilder: Zwei Despoten in einvernehmlichem Gespräch, nur der früher übliche Bruderkuss hat gefehlt.
Nun wollen die Amerikaner unbedingt einen Fuß in Tür bekommen, bevor der Deal durch ist. Denn die Gaspreise steigen, hier winkt die ganz große Abzocke. Weil Industrienationen wie Deutschland den Ausbau der Windkraft und der Solargeneratoren in den vergangenen zehn Jahren verschlafen haben, stecken sie in der fossilen Versorgung fest.
Deshalb bleiben sie Spielball der Spekulanten an den Rohstoffbörsen, bleiben Spielball amerikanischer und russischer Interessen, neuerdings mischen Polen und Türken mit, wer auch immer. Hier werden Ängste geschürt, um Politik zu machen, um lukrative Märkte zu sichern und viel, viel Geld aus den Taschen der Menschen zu ziehen.
Die Russen und der Westen sind aufeinander angewiesen
Die Russen haben bekräftigt, ihre Lieferverträge weiterhin vollumfänglich zu erfüllen. Was bleibt ihnen anderes übrig? Russland ist – wie alle Länder – auf stabile wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen angewiesen, wie der Westen auf gute Beziehungen zum Kreml. Denn dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die russische Wirtschaft global noch immer nicht konkurrenzfähig.
Der Kreml ist darauf angewiesen, Rohstoffe zu verkaufen, um die sozialen Gegensätze in seinem Riesenreich irgendwie zu glätten und unter der Decke zu halten. Und um ganz nebenbei Putins Pomp im Kreml zu finanzieren, und die marode Atomwirtschaft und die Armee mit rund einer Million Mann unter Waffen und zwei Millionen Reservisten.
Und der Westen – der die Energiewende verzögert hat – bleibt auf Brennstoffe angewiesen – wie vor dreißig Jahren. Doch mit Armeen sind moderne Märkte nicht zu erobern. Das weiß Wladimir Putin, das weiß auch Joe Biden. Dass nun doch Truppen aufmarschieren, zeigt die Schwäche dieser beiden Staatslenker, die sich auf internationalem Parkett als Totalversager entpuppen. Wie zornige Halbwüchsige fallen sie in den Kalten Krieg zurück, lassen lächerliche Zinnsoldaten aufmarschieren, als schrieben wir noch das Jahr 1961 und nicht 2022.
Ruhig bleiben und in erneuerbare Energien investieren
Angenehm unaufgeregt dagegen der Auftritt von Olaf Scholz in Washington, angenehm ausgeglichen die Argumente von Annalena Baerbock in Kiew. Gerade an dieser Krise zeigt sich, dass ökonomische Macht viel wichtiger ist als Militarismus. Und dass es für solche Probleme keine militärische Lösung gibt. In einer vernetzten Welt läuft die Zeit der Militärs endgültig ab. Heute geht es nicht mehr um Feinde oder Freunde, sondern um Kunden, Märkte und Verträge.
Wenn Putin in der Ukraine einmarschiert, wird er den Westen als Kunden verlieren. Dann dürfte er Pleite sein, und Schluss mit der Herrlichkeit des Kremls. Vielleicht geben ihm die Chinesen noch Kredit, aber sicher nur gegen Zugeständnisse in Sibirien.
Und wenn der Westen nicht schleunigst die erneuerbaren Energien ausbaut, wird er bis zum Sanktnimmerleinstag am russischen Erdgas hängen, wie einst am Öl der Saudis und am Uran der Amerikaner.
Wir stehen am Scheideweg
Europa steht am Scheideweg, in der Tat. Was auch geschieht: Der Kalte Gaskrieg öffnet vielen Menschen die Augen. Wir müssen nicht nur weg von Atom, Öl und Kohle, sondern auch weg vom Erdgas, so schnell es geht. Die steigenden Energiepreise – auch für Erdgas – beweisen, dass die Energiewende eine ökonomische – nicht nur eine ökologische – Notwendigkeit ist.
Die Energieversorgung Deutschlands komplett auf einheimische und saubere Träger umzustellen, ist von höchster strategischer Bedeutung. Wenn dies gelingt – und es wird gelingen –, können wir alle Zinnsoldaten nach Hause schicken – und die Bidens und Putins gleich mit.
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