Die Wahl zum europäischen Parlament war wenig überraschend. Niemand kann sagen, er habe nicht vorher gewusst, was passieren kann. Dass der Abstieg der Sozialdemokraten derart ungebremst weitergeht – wen hat das verwundert? Dass die Christdemokraten gleichfalls in den Sog der Abwärtsspirale geraten – hohe Zeit.
Lincoln: Man kann nicht alle für immer täuschen
Es gelingt wohl, alle Menschen einige Zeit und einige Menschen allezeit, aber niemals alle Menschen alle Zeit zum Narren zu halten: Einmal mehr hat sich diese Weisheit von Abraham Lincoln bewahrheitet. Der Erfolg der Grünen war vor allem abwandernden Wählern aus dem Lager der Großen Koalition zu verdanken. Sie kehren ihren Parteien den Rücken, weil NICHTS geschieht.
Bei Michail Gorbatschow lautete die Erkenntnis so: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Denn CDU, CSU und SPD verschlafen den Klimawandel, sie lösen die sozialen Probleme in diesem Lande nicht, sie finden kein Mittel gegen gierige Vermieter. Weiterhin hängen sie am Rockzipfel der Lobbyisten und von Donald Trump, lassen sich zu hilflosen Statisten degradieren. Steigern die Ausgaben für Rüstung statt für Bildung und Energiewende.
Stammwähler abgewandert
Rund zweieinhalb Millionen ehemalige Stammwähler der Unionsparteien und der SPD haben ihre Gefolgschaft aufgekündigt und Grün gewählt. Der Rest wanderte zur AfD ab, in Brandenburg beinahe die gesamte Wählerbasis der Sozis. Offenbar haben beide Wählergruppen die Schnauze voll. So spaltet sich die Gesellschaft in diejenigen, die noch Hoffnung haben, an die Demokratie und ihre Wandlungsfähigkeit glauben. Sie wählen grün. An die AfD hängt sich, wer resigniert. Wen die Bitterkeit überwältigt. Das böse Erwachen wird bald folgen, in Brandenburg und in Sachsen.
Menschenskinder, die Partei Willy Brandts im freien Fall! Und noch immer scheint der Leidensdruck nicht groß genug. Der Auftritt von Andrea Nahles und Katarina Barley am Wahlabend war eindeutig: Wir machen weiter wie bisher. Eigentlich hätten beide sofort zurücktreten, die politische Bühne räumen müssen.
Sie hängen an ihren Pöstchen
Eigentlich müssten sie die Groko sofort beenden, den Weg freimachen für Neuwahlen. Aber sie hängen an ihren Posten, nun zu Pöstchen geschrumpft, wie einst Egon Krenz am Chefsessel der SED.
Und die Unionsparteien? Manfred Weber war gleichfalls Verlierer dieses Votums. Doch auch er redet die Ergebnisse schön, sekundiert von Annegret Kramp-Karrenbauer. Schwafelt vom Auftrag der Wähler und erhebt sogar Anspruch auf das Amt des Präsidenten der EU-Kommission. Was muss eigentlich noch geschehen, um Einsicht in die vernebelten Hirne zu bringen?
Wir werden es erleben: Wurstelt die Groko so weiter wie bisher – und nichts deutet auf Veränderungen hin – könnten die Grünen 2021 zur stärksten Kraft aufsteigen. Bei den unter 60-Jährigen sind die es bereits, so die Analyse der ARD. Jetzt ist endgültig klar: Unser Land braucht und will keine Apparatschiks.
Es denkt in Deutschland
So ist das jüngste Wahlergebnis vor allem eine Absage an einen überkommenen Politikstil, in dem die Lobbyisten der Kohlewirtschaft, der Atomindustrie und der Waffenschmieden mehr zu sagen haben als Millionen Menschen, die für Frieden und ökologischen Wandel plädieren. Es ist die Absage an das endlose Spiel auf Zeit, an das unwürdige Gezerre um Posten, Budgets und faule Kompromisse.
Old Abe Lincoln hat Recht behalten, wieder einmal. Die gute Nachricht lautet: Der deutsche Michel denkt nach. Will nicht länger Michel sein. Immer mehr Menschen verstehen, dass der Kampf gegen den Klimawandel auch und vor allem eine soziale Notwendigkeit ist. Wohlstand und Zivilisation werden unmöglich, wenn die Energiewende nicht gelingt. Die alte Wirtschaft von Kohle, Öl, Uran und Stahl zerstört die Erde. Sie ist am Ende. Zukunftsfähig sind nur erneuerbare Energien, smarte Industrien und digitale Vernetzung. Es ist das globale Modernisierungsprogramm, das die so genannte Erste Welt auf alle Kontinente ausdehnen wird. Dazu gibt es keine Alternative.
Die Spitze eines Eisbergs
Noch ein Wort zu den Grünen: Ihr Wahlsieg markiert die Spitze eines Eisbergs. Die grüne Partei wird getragen von der notwendigen grünen Bewegung, unsichtbar unter der Oberfläche verborgen. Eigentlich ist diese Bewegung eine Chance für alle Parteien, eigentlich braucht sie alle demokratischen Kräfte, um erfolgreich zu sein. Auch SPD, CDU und CSU, auch FDP und Linke könnten profitieren, würden sie die Zeichen der Zeit erkennen.
Tun sie aber nicht. Also sind die Grünen die neuen Hoffnungsträger für den Wandel. Doch beispielsweise die Energiewende ist eine Aufgabe, die nur von unten bewältigt werden kann. Sie ist die Aufgabe der Bürger, nicht allein des Staats. Politik und Regierung können Türen öffnen, können Investitionen und Entscheidungen anregen. Letztlich sind es aber die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land – als Privatpersonen oder Unternehmer –, die sich für Sonnenstrom und Windkraft, für Stromspeicher und E-Autos entscheiden.
Kein Ersatz für den globalen Aufbruch
Geraten die Menschen in Bewegung, ordnen sich politische Strömungen neu. Der Aufstieg von Bündnis90/Grüne ist kein Ersatz für einen umfassenden sozial-ökologischen Aufbruch der Menschen in diesem Land, in Europa, weltweit. Dieser Aufbruch müsste die besten Traditionen der Sozialdemokratie ebenso einschließen wie religiöse Bekenntnisse zur Schöpfung. Grün war die Erde am siebten Tag, heißt es in der Bibel. Grün ist die Farbe des Propheten im Islam. Der Mönch Augustinus schrieb 400 Jahre nach der Zeitenwende: Dies septimus nos ipsi erimus – Der siebte Tag werden wir selber sein.
Es wäre so einfach: Die ökologische Wende könnte ein ökumenisches Projekt der Unionsparteien sein. Mieterstrom und sozial faire Preise für saubere Energie könnten sich die Sozis und die Linke auf die Fahnen schreiben. Und die Liberalen könnten die dezentrale Energiewende fördern, weil sie die Energiemonopole demontiert und die teure, zentralistische Struktur des Stromnetzes beerdigt. Mehr Wettbewerb im Strommarkt, weniger Staat und Monopole.
Wann beginnt der Aufstand der Parteibasis?
Doch nichts dergleichen geschieht. Wie lange lassen sich das die Genossen an der Parteibasis noch gefallen? Das unwürdige Gerangel der SPD-Bonzen verrät die demokratischen Traditionen dieser Partei, ist ein Verrat an den ungelösten sozialen Problemen in diesem Land. Menschenskinder, die Partei Willy Brandts bei knapp 15 Prozent! Wie können Frau Nahles oder Herr Gabriel überhaupt noch vor die Mikrofone treten, ohne vor Scham zu erröten?!
Und wie kann Frau Kramp-Karrenbauer vor aufrechten Christen in ihrer Wählerschaft weiterhin von Wahlerfolgen schwadronieren, kann die CO2-Steuer verteufeln, ohne die ureigenen und wichtigen Werte dieser Klientel zu beschmutzen? Da muss man sich schon fragen: Wo bleibt der Aufstand der roten und schwarzen Parteibasis?
Jeder ist seines Glückes Schmied
Es gilt auch: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Nichts scheint mehr unmöglich. Vielleicht gibt es 2021 tatsächlich die erste grüne Kanzlerin, den ersten grünen Kanzler. Wahrlich: Es sind gute Zeiten – für die Energiewende, für unsere Branche und die Demokratie in unserem Lande.