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Sektorkopplung

Vollstrom = PV + Netz

Photovoltaik und Stromspeicher revolutionieren nicht nur die Versorgung der Haushalte und der Industrie mit elektrischem Strom. Sie elektrifizieren zudem die Mobilität und die Haus- sowie TGA-Technik. Denn voll solar-elektrisch versorgte Gebäude kommen mit weniger Technik aus – zur Bereitstellung, Messung und Verteilung der Energie.

Und: Die Zahl der Gewerke am Bau wird reduziert. Andererseits steigt der Komfort für die Nutzer, denn elektrischer Strom ist viel effizienter als thermisch träge Radiatoren im hydraulischen System mit Gasbrenner.

Sogar die Wärmepumpe schneidet gegen die solar-elektrische Vollversorgung schlechter ab. Zwar ist sie gegenüber fossiler Verbrennungstechnik klar im Vorteil. So preiswert und einfach installiert wie beispielsweise elektrische Infrarotheizungen ist sie aber nicht.

Neuer Trend im Architekturportal

Deshalb hat Solar Age, das B2B-Webportal für solare Architektur, die vollelektrische Versorgung von Gebäuden – inklusive E-Mobilität – nun als neuen Schwerpunkt in seine Bibliothek (Library) aufgenommen. Bei den Referenzobjekten werden zunehmend solche Gebäude aufgenommen, die nur noch Solarstrom und Windstrom zur Versorgung brauchen. Partner ist die Firma My-PV aus Österreich, die seit Jahren in der elektrischen Wärmeversorgung mit Solarstrom Pionierarbeit leistet.

Faktisch ist die solar-elektrische Vollstromversorgung schon den Kinderschuhen entwachsen. Der Preisverfall bei den Solarkomponenten und den Gewerbespeichern erlaubt wirtschaftliche Systeme, die mit klassischen Konzepten der Haustechnik mithalten können.

Ein visionäres Projekt in Lübben

So baut die Lübbener Wohnungsbaugesellschaft (LWG) am Rande des Spreewalds in der Lausitz ein visionäres Projekt: Reduktion ist Trumpf! Kopf und Chefplaner ist Professor Timo Leukefeld, der schon bei der Solarthermie zu den Vorreitern gehörte.

Er hat das Konzept der enttechnisierten, energieautarken Mehrfamilienhäuser entwickelt. Die Vision von Leukefeld und seinem Autarkie-Team ist die radikale Vereinfachung der Haustechnik. „Wir brauchen eine einfache, solide und wartungsarme Technik, die den Bewohnern Kosten spart und Kohlendioxid auf ein Minimum reduziert“, fasst Timo Leukefeld zusammen. „Der Schlüssel dazu ist eine hohe Autarkie durch Solarenergie für Wärme, Strom und Mobilität.“

Dafür setzen er und sein Team auf Photovoltaik und Infrarotheizung statt der hydraulischen Heizung. „Ich war von Anbeginn überzeugt, dass dieses Konzept etwas für die Zukunft sein kann“, sagt Frank Freyer.

Ein Geschäftsführer wurde aktiv

Der Geschäftsführer der Lübbener Wohnungsbaugesellschaft wurde durch einen Vortrag von Leukefeld auf die neuen Möglichkeiten aufmerksam. Sogleich setzte er alle Hebel in Bewegung, um das innovative Projekt in Lübben zu realisieren. Ende August 2020 war der erste Spatenstich für die neue saubere und autarke Siedlung.

2.000 Wohnungen sind im Besitz der LWG, einer Tochtergesellschaft der Stadt Lübben. Ziel der Stadt ist es, die Einwohnerzahl bis 2030 von 14.000 auf 15.000 zu steigern. Im Prinzip nicht schwierig, denn wegen der steigenden Mieten in Berlin ziehen immer mehr Menschen in die nahe gelegene Kleinstadt.

Mit drei Prozent ist der Leerstand gering und die LWG ist gefordert, neuen Wohnraum zu schaffen. „Wir wollen attraktive Wohnungen mit erschwinglichen Mieten für alle Schichten der Bevölkerung anbieten“, sagt Freyer. „Und wir wollen als leistungsstarkes Unternehmen wahrgenommen werden, das den Herausforderungen der Zeit gerecht wird.“

Mangel an Handwerkern drückt

Das betrifft nicht nur die Energieversorgung in Gebäuden, ergänzt er. „Auch der Handwerkermangel und die zunehmende Bürokratisierung sind Stellschrauben.“ Genau hier setzt das neue Konzept des Autarkie-Teams unter Leitung von Timo Leukefeld an. „Es geht nicht nur um das Grundbedürfnis des Wohnens“, erklärt Leukefeld. Die regenerative Energieversorgung und Mobilität seien genauso zu berücksichtigen wie die Auswirkungen auf die Umwelt. Nicht zuletzt müsse die Mietrendite attraktiv sein, damit Investoren sich zu innovativen Bauvorhaben entschließen.

Die Lösung liegt für ihn in der „doppelten Disruption“, die bei energieautarken enttechnisierten Mehrfamilienhäusern wirkt. „Wir praktizieren die radikale Vereinfachung auf zwei Ebenen“, sagt er. „Bei der Technik einerseits und den Verträgen und Abrechnungen andererseits. Die Menschen wollen möglichst einfache Konzepte. Das betrifft sowohl Mieter als auch Vermieter.“

Bis drei Euro mehr je Quadratmeter

Die beiden Mehrfamilienhäuser in Lübben werden jeweils sieben Wohnungen auf 575 Quadratmeter Wohnfläche haben. Infrarotheizungen werden die Räume erwärmen. Wie schon bei den früheren energieautarken Mehrfamilienhäusern, die beispielsweise in Cottbus, Wilhelmshaven und Aalen gebaut wurden, wird auch in Lübben ein Großteil des Energiebedarfs für Wärme und Strom solar gedeckt.

Anstelle von Solarthermie kombiniert Leukefeld die Photovoltaikanlagen direkt mit Infrarotheizungen. „Wenn wir über die Hälfte des Strombedarfs mit Photovoltaik erzeugen, gehen die Energiekosten stark nach unten“, erklärt er. „Die Zeit ist reif: Wir müssen weg von der wassergeführten Heizung. Es soll im Wohnungswesen in Richtung Strom gehen, das ist auch die politische Ausrichtung.“

Infrarotheizungen haben eine Lebensdauer von 30 bis 40 Jahren, sind wartungsfrei und reduzieren die Investitionskosten der Heizung drastisch. Zudem sorgen sie für angenehme Strahlungswärme. Und Solarstrom, der in dieser Anlagengröße für circa acht bis zehn Cent je Kilowattstunde erzeugt werden kann, macht die Pauschalmiete möglich.

Dadurch können Vermieter ihre Rendite steigern und bis zu drei Euro je Quadratmeter höhere Mieteinnahmen generieren. „Das ist ein Anreiz, konsequent energieautarke Häuser mit Pauschalmiete zu bauen“, ist Leukefeld überzeugt. Die baugleichen Mehrfamilienhäuser in Lübben werden jeweils mit 37,7 Kilowatt Solarleistung ausgestattet. Solarstrom, der gerade nicht im Gebäude verbraucht werden kann, wird in Speicherakkus mit 73 Kilowattstunden Kapazität zwischengespeichert. Der Sonnenstrom wird für die Haushalte, die Infrarotheizung und Warmwasserbereitung genutzt.

Ökostrom kommt vom Stadtwerk

Der verbleibende Strombedarf wird mit Ökostrom von den Stadtwerken Lübben gedeckt. „Dadurch, dass wir die Energie für Wärme und Strom weitgehend selbst produzieren, sind wir kaum noch von anderen abhängig“, sagt Frank Freyer zufrieden. „Und wir verursachen kein Kohlendioxid im Betrieb der Häuser.“

Im Sinne der Sektorenkopplung will die LWG den klimafreundlichen Solarstrom nicht nur für Wärme und Strom, sondern auch für die Mobilität nutzen. „Laut Berechnungen wird noch so viel Solarstrom übrig bleiben, dass damit 50.000 Kilometer elektrisch gefahren werden können“, zitiert Freyer aus den Planungen. Sein Unternehmen werde deshalb prüfen, ob es E-Autos zum Carsharing anbietet oder eine öffentliche Ladesäule aufstellt.

Pauschalmiete mit Flatrate für Energie

Die künftigen Mieterinnen und Mieter zahlen eine Pauschalmiete inklusive Energieflat für Wärme und Strom, die zunächst für einen begrenzten Zeitraum festgesetzt wird. Die Pauschalmiete wird die Nettokaltmiete, Energie für Heizung und Warmwasser, den Haushaltsstrom und anteiligen Gemeinschaftsstrom beinhalten.

Über steigende Energiekosten, die gern als zweite Miete bezeichnet werden, brauchen sie sich keine Gedanken zu machen. Freyer andererseits ist froh, dass der leidige Aufwand für die Heizkostenabrechnung entfällt. „Das ist eine große Zeitersparnis und damit bares Geld“, sagt er.

Leukefeld geht es bei dem neuen Konzept auch um die „dritte Miete“. Als solche bezeichnet er die Kosten für die Wartung und Instandhaltung. Und die werden sich wegen des Handwerkermangels noch verschärfen, ist er überzeugt. Der Wartungsaufwand für die sonst übliche komplexe Heizungstechnik führe zu erheblichen zusätzlichen Kosten für Mieter und Vermieter. „Wir müssen uns trauen, vielbeschworene Technik infrage zu stellen“, sagt er. „Weniger ist mehr!“

Geringere Kosten im Gebäudebetrieb

Einen akuten Fachkräftemangel kann Frank Freyer bestätigen: „Maler, Elektriker und Heizungsbauer finden keinen Nachwuchs oder die Mitarbeiter laufen den Betrieben weg.“ Auf die Erfahrungen mit dem neuen Baukonzept und vor allem der Pauschalmiete ist er schon jetzt gespannt. „Das könnte sich langfristig durchsetzen“, prognostiziert er.

Weg von komplexen Lösungen und punktgenauen Abrechnungen hin zu einfacher und robuster Technik. Darauf zielt Timo Leukefeld, der nicht nur Wohnungsunternehmen, sondern auch Banken und Energieversorger für seine innovativen Konzepte gewinnen konnte. „Strom wird die vorherrschende Energiequelle sein“, prophezeit er. „Die Abrechnung über eine Flatrate für Wohnen, Mobilität und Energie ist möglich.“

In der Referenz-Datenbank von Solar Age finden sich immer mehr Gebäude mit ­solar-elektrischer Vollversorgung.

Grafik: Solar Age

In der Referenz-Datenbank von Solar Age finden sich immer mehr Gebäude mit ­solar-elektrischer Vollversorgung.

Für Schnelle Leser

Im Titelthema finden Sie:

• Carports und Balkone: Oliver Hackney spricht über Kunden und Trends.

• Glas-Glas mit abZ: Axel Lellau und Norbert Betzl von Solarwatt im Gespräch.

• Solarziegel: Neue Projekte der Firma Dachziegelwerke Nelskamp vorgestellt.

• Unsichtbare Zellen: Peter Röthlisberger von Solaxess im Interview.

• Langer Atem: Blick zurück und nach vorn – Joachim Höhne und Jürgen Hartwig.

• Creaton und CS Wismar: Neues Indachsystem für private Solarkunden.

Technische Daten

Energieautarke Mehrfamilienhäuser in Lübben (Spreewald)

Bauherr: Lübbener Wohnungsbaugesellschaft mbH
Planung Energiekonzept: Timo Leukefeld/Autarkie-Team
Bauunternehmen: Helma

Technische Daten für ein Gebäude:

(Die beiden Mehrfamilienhäuser werden identisch gebaut)

KfW-Effizienzhaus-Standard 55
7 Wohnungen (2 x 2, 4 x 3 und 1 x 4 Zimmer)
Gebäudenutzfläche (AN): 698 m²
Wohnfläche: 574 m² (beheizte Wohnfläche, Balkone und Terrassen)
Gesamte beheizte Fläche: 595 m² (beheizte Wohnfläche, Treppenaufgang und Technik)
Heizwärmebedarf (Qh): 12.480 kWh/a
Spezifischer Heizwärmebedarf: 17,80 kWh/m²a (bezogen auf beheizte Nutzfläche AN)
Warmwasserbedarf (Qtw): 9.192 kWh/a
Nutzenergiebedarf: 21.672 kWh/a
Mittlerer U-Wert HT: 0,26 W/m²K
Mittlere Raumtemperatur: 21 Grad Celsius
Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung

Stromversorgung:

Gesamtstrombedarf: 19.300 kWh/a (ohne Heizung und Warmwasser)
Haushaltsstrombedarf: 2.500 kWh/a pro Wohneinheit
Gesamtstrombedarf mit Heizung und Warmwasser: 35.384 kWh/a
Stromversorgung: Photovoltaik (48,3 kW auf Dach und an Fassade) mit Stromspeicher (73 kWh Kapazität) sowie Netzanschluss
Solarer Deckungsgrad am gesamten Energiebedarf (Wärme und Strom): 51 bis 56 Prozent
Wärmeversorgung: Infrarotheizung
Dezentrale elektrische Warmwasserbereitung

Baden-Württemberg

Architekten und Forscher starten Initiative für BIPV

Die Architektenkammer Baden-Württemberg hat zusammen mit Forschungseinrichtungen eine Initiative gestartet, um der bauwerkintegrierten Photovoltaik aus der Nische zu helfen. Zu den Kooperationspartnern gehören neben dem Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung (ZSW) und dem Fraunhofer ISE auch die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung in Konstanz (HTWG).

Zunächst haben sich die Projektbeteiligten einen Überblick verschafft, wo es in der Praxis bei der Umsetzung von BIPV-Projekten hakt. Neben Informationsdefiziten sind vor allem ästhetische Vorbehalte der Architekten und die zu komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen große Hürden. Außerdem stehen bei den Bauherren die Investitionskosten im Mittelpunkt, während die Betriebskosten vernachlässigt werden. „All das führt dazu, dass jedes neue BIPV-Projekt zu einem Pilotprojekt wird“, beschreibt Thomas Stark von der HTWG die Situation bei der Vorstellung der Initiative auf dem diesjährigen Symposium Solares Bauen. „Das Ziel der Initiative ist, mehr Routine in die Umsetzung der Projekte zu bringen.“

Deshalb werden die Projektbeteiligten einen aktuellen Leitfaden für die BIPV erarbeiten. Er soll den derzeitigen Informationsstand zusammenfassen. Gleichzeitig begleiten sie mehrere Pilotprojekte. Daraus entwickeln sie Empfehlungen für eine zukünftige BIPV-Richtlinie. Sie soll bis Ende 2022 fertig sein. „Die Idee dahinter ist, möglichst viel zu standardisieren und Vorlagen zu erarbeiten, um den sehr komplexen Prozess der BIPV zu vereinfachen“, sagt Stark. „Daraus sollen auch Anpassungen von Regelungen oder vielleicht auch die Abschaffung von Regelwerken abgeleitet werden, die die BIPV behindern.“ Flankiert wird die Initiative von einer Analyse des Potenzials von Solarfassaden im Land und der Entwicklung neuer BIPV-Bauprodukte.

Solar Age

Architekturportal kostenfrei zur Nutzung

Das B2B-Webportal Solar Age ist kostenfrei. Das Passwort bekommen die Nutzer nach der Registrierung zugesandt. Das Ziel ist es, aktuelles Fachwissen zur solaren Architektur in möglichst viele Architektur- und Planungsbüros zu tragen. Solar Age richtet sich an Architekten, Gebäudeplaner, TGA-Fachplaner, Energieberater und die Immobilienwirtschaft. Es bietet einen wöchentlichen Newsletter, Webinare und Videos rund um die solare Architektur an.

Mittlerweile ist die Produktdatenbank auf knapp 540 solare Bauprodukte und Produkte zur E-Mobilität angewachsen. Die Datenbank für gelungene Referenzobjekte der solaren Architektur beinhaltet bereits 170 Objekte weltweit.

Auch 2021 wird der Bestand an Produkten, Videos, Referenzgebäuden oder anderen nutzwertigen Informationen erweitert. Solar Age bietet Interessenten darüber hinaus einen Planungsleitfaden für Solarfassaden, der gemeinsam mit Valentin Software aus Berlin ­entwickelt wurde.

Grafik: Solar Age

Das Architekturportal Solar Age wird fortlaufend aktualisiert.