In Hans Ruscheweyhs Labor herrscht Sturm. Mit Stärke neun tobt er über eine Hauskante und die auf dem Dach installierten Module. Der Professor, der ein privates Strömungslabor bei Aachen betreibt, beantwortet an Miniaturmodellen die Frage, was der Anlagenplaner tun muss, damit die Montagegestelle halten.
Ein solcher Anlagenplaner ist Igor Rauschen. Der Ingenieur plant Dachanlagen für das Dachabdichtungsunternehmen Pohlen und dessen Tochter Pohlen Solar im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen. Nach schlechten Erfahrungen steht inzwischen jedes seiner Projekte im Kleinformat in Ruscheweyhs Windkanal, um die Lastverteilung auf dem Dach zu analysieren. Denn es sieht so aus, als ob die von Statikern üblicherweise angesetzten Windlasten viel zu hoch sind. Das führt dazu, dass viele Photovoltaikprojekte auf Hallendächern gar nicht gebaut werden, obwohl es eigentlich möglich wäre. Ein Jammer, denn die flachen Baukörper von Lager- und Gewerbehallen bieten große, unverschattete Dachflächen, die ideal für die Errichtung von Solarkraftwerken sind.
Da Dacheigentümer und Handwerker in der Regel keine Schrauben und Gestänge durch die Dachhaut führen wollen, müssen sie auf sogenannte Ballastsysteme ausweichen (siehe photovoltaik04/2009). Die Gestelle werden einfach auf das Dach gestellt und mit Gewichten beschwert, damit sie den Windlasten standhalten und nicht verrutschen. Der Vorteil ist, dass Solaranlage und Dach zwei getrennte Systeme bleiben. Doch die mit den üblichen Verfahren errechneten Lasten sind nicht unerheblich. Bis zu 180 Kilogramm pro Quadratmeter Dachfläche muss das Tragwerk zusätzlich stemmen. Viele Hallendächer schaffen das schlicht nicht. „Besonders problematisch sind die Leichtdächer, die Trapezblechdächer, die eine Wärmedämmung haben und eine Folienabdichtung. Und die im Stahlrahmenbau konstruierten Hallen sind insbesondere anfällig gegenüber Horizontallasten“, sagt Ingenieur Igor Rauschen. Wenn die errechnete Dachlast zu hoch ist, kann eine Dachanlage nicht realisiert werden.
Pikanterweise weiß niemand so genau, wie er die Windlast an Modulen eigentlich ausrechnen soll. Statiker greifen häufig auf die in der DIN 1055-4 oder im Eurocode ENV 1991-2-4 angegebenen Lastbeiwerte von Flach- und Pultdächern zurück – aus Mangel an Alternativen. Mit den tatsächlich auftretenden Windlasten an den Modulen haben die Ergebnisse nicht viel zu tun. „Ein Modul ist ein Einzelelement, ein Tragflügel auf einem Dach“, erklärt Ruscheweyh, der selbst in den Normausschüssen saß. „Dafür gibt es keine Werte. Wenn die Werte einigermaßen passen, dann ist das reiner Zufall.“ Für die Windlasten an Solarmodulen gebe es bis heute kein adäquates Rechenverfahren.
Problematische Rechenverfahren
Das hat Igor Rauschen gleich bei seinem ersten Projekt vor vier Jahren erfahren. „Wir wollten auf Nummer sicher gehen“, erzählt der Projektleiter. Deshalb entschied er sich für einen Hersteller, der zum Montagesystem auch die Berechnung der Systemstatik mit anbot. Doch ein Prüfstatiker nahm die Berechnungen kurzerhand auseinander. Seiner Meinung nach waren die Windlasten falsch angesetzt. In diesem Fall zu niedrig, was zu einem Sicherheitsrisiko geführt hätte. Daraufhin ließ Rauschen die Modulanordnung im Windkanal untersuchen und rüstete entsprechend den dort ermittelten Werten auf. Die Montagebügel waren zu schwach, sie mussten mit Zusatzprofilen versehen werden. Auch die Beschwerung reichte nicht aus. Rauschen hatte Glück, weil das Dach genügend Reserven bot.
In diesem Fall war das Montagegestell zu schwach ausgelegt. Häufiger aber werden viel zu große Windlasten für die Module angenommen. Sie führen zu überdimensionierten Unterkonstruktionen. Um einen Windkanalversuch durchführen zu können, benötigt Ruscheweyh die Eckdaten der Anlagenplanung: die Geometrie des Gebäudes und der Module, Aufstellrichtung und Neigungswinkel, die Abstände der Modulreihen, den Abstand zur Dachfläche. Umgebungsgebäude und Bebauungsstruktur im weiteren Umfeld berücksichtigt er ebenfalls. Auch die Attika muss er im Modell nachbilden; dieses umlaufende Brüstungselement hat einen wesentlichen Einfluss auf die Windlasten der Randmodule. „Außerdem ist es wichtig zu schauen, was noch auf dem Dach rumsteht“, erklärt der Aerodynamiker, „Beleuchtungselemente, Lichtkuppeln, Wärmetauscher, Kühlaggregate.“
Die Hallen, auf denen Solarstromkraftwerke installiert werden, sind in der Regel mehrere hundert Meter lang. Weil das Modell zu groß für die Windanlage wäre, modellieren Ruscheweyh und seine acht Mitarbeiter Teile des Gebäudes im Maßstab 1:80 nach, und zwar die gefährdeten Bereiche. Die Messergebnisse können sie später auf größere, gleichartige Flächen übertragen.
Ruscheweyh dreht die runde, schwarze Platte, auf der das Plexiglasmodell einer Lagerhalle steht – Rauschens neuestes Projekt. Schritt für Schritt simuliert er so alle relevanten Windrichtungen. Auf dem Dach des Modells befinden sich schräg gestellte Plättchen. Das sind die Photovoltaikmodule. Hinter dem Modell ragt ein schwarzer Kasten auf, ähnlich einer Miniatur-Theaterbühne. Aus vier senkrecht montierten Düsen dieses sogenannten Grenzschichtwindkanals kommt der Wind, am Boden stehen Klötzchen, die die Bodenrauigkeit nachbilden. So entstehen eine Geschwindigkeitsverteilung, die mit der Höhe variiert, und Turbulenzen, die die Realität nachbilden.
Windlasten kleiner als erwartet
Trotz simulierten Sturms fliegt das Modell den Ingenieuren allerdings nicht um die Ohren. Sie messen mit Sensoren an rund 80 Messpunkten, die an etwa einem Drittel der Modulmodelle angebracht sind. Daraus errechnen sie den sogenannten aerodynamischen Beiwert, mit dem man auf die Belastung der Anlage in realer Größe schließen kann. Aus dem Windstaudruck, der der DIN 1055-4 entnommen wird, und dem aerodynamischen Beiwert errechnet der Statiker im nächsten Schritt die vertikale und die horizontale Last. Obwohl der Windkanal maximal bis zu 24 Meter pro Sekunde fährt, was einer Windgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern entspricht, können mit den hier ermittelten Werten die Folgen eines Sturms wie Kyrill abgebildet werden.
Über 20 Windkanalversuche an Solarstromanlagen hat Hans Ruscheweyh in seinem Strömungslabor bereits durchgeführt, vornehmlich an Anlagen mit einer LeistungGrafik: Solarpraxis AG/Harald Schütt von über einem Megawatt. Der Kunde bekommt eine Broschüre mit technischen Zeichnungen, in denen verschiedenfarbig dargestellt ist, wie die Lasten, auf die die Gestelle ausgelegt werden müssen, über die Dachfläche variieren. Die Ergebnisse sind verblüffend. Der Strömungsexperte konnte ein großes Einsparpotenzial nachweisen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die größte Windlast immer an den Seiten und an der Ecke auftritt, immer bei Schrägeinblasung“, sagt er. Alle Module, die hinter der stark belasteten Ecke liegen, haben sehr kleine Windlasten. Zwar kommen auch einige Statikberechnungsprogramme, die nach der DIN 1055 vorgehen, zu Lastreduktionen ab der dritten Modulreihe. Doch durch einen projektbezogenen Windkanalversuch kann Ruscheweyh noch niedrigere Werte nachweisen.
Das kann unterschiedliche Auswirkungen haben, die alle die Rendite erhöhen. Wenn etwa die begrenzte Gewichtaufnahme des Daches vermeintlich die Modulfläche begrenzt, kann man nach dem Windkanaltest unter Umständen mehr Module unterbringen, so dass der Ertrag steigt. Alternativ kann der Aufwand für das Gestell reduziert werden, so dass die Investitionskosten sinken. Und auf manchen Dächern wird eine Anlage sogar erst möglich, wenn solch eine umfassende Analyse zeigt, dass die Lasten geringer sind, als standardmäßig vorausgesetzt.
Da jedoch manche Dachflächen trotz der im Windkanal ermittelten niedrigeren Windlasten keine Montagegestelle tragen können, arbeitet Rauschen auch an der Reduktion der Lasten durch eine verbesserte Anordnung der Modulflächen. „In unserem ersten Entwicklungsschritt haben wir die Modulneigung von 25 auf 15 Grad reduziert, um dadurch sowohl Vertikal- als auch Horizontallasten einzusparen.“ In aktuellen Projekten hat der Ingenieur es allerdings mit Flachdächern zu tun, die teilweise unter 30 Kilogramm pro Quadratmeter an Lastreserven haben. Das schafft Rauschen mit dem herkömmlichen Montagesystem nicht mehr. Nun untersucht der Projektierer gemeinsam mit dem Aachener Strömungsexperten die positiven Auswirkungen von sogenannten Schließwinkeln am Modul. Das sind Platten auf der Rückseite des Moduls, die die abhebenden Kräfte stark reduzieren. Ob steil oder flach, mit poröser oder geschlitzter Oberfläche – im Windkanal testet Ruscheweyh systematisch alle Gestaltungsmöglichkeiten, um den optimalen Schließwinkel zu finden.
Regel nicht in Sicht
So sinnvoll sich die Windkanaltests für Igor Rauschen erwiesen haben, stellt sich trotzdem die Frage, ob man wirklich jede einzelne Anlage im Windkanal nachbilden muss oder ob eine neue PV-Norm helfen würde. Diese müsste im Gegensatz zu den existierenden Normen detailliert festlegen, mit welchen Windlasten man an schräg stehenden Modulen auf Dächern unter bestimmten Bedingungen rechnen muss.
Ruscheweyh hält solche Bestrebungen für verfrüht: Wenn die Norm erst einmal besteht, zieht sich alle Welt darauf zurück, was aus seiner Sicht weitere Innovationen verhindert. Und zu denen wird es vermutlich kommen, da das Potenzial für Großanlagen auf deutschen Dächern enorm ist. „Es sind einige Millionen Quadratmeter, die für die Installation von Solarstromanlagen in Frage kommen“, schätzt Rauschen. „Wenn man die Lasten in den Griff bekommt.“