Gerade norddeutsche Windparks und Solaranlagen im Osten der Republik können ihre Leistung oft nicht ausschöpfen, weil die Netze die Grenzen ihrer Kapazität erreicht haben. Konventionelle Großkraftwerke verstopfen die Trassen. Kohlekraftwerke lassen sich nicht so schnell abregeln. Sie seien aber für die Steuerung der Stromnetze unerlässlich, sagen die großen Energieversorger und beschwören eine heilige Kuh: Ohne die rotierenden Massen der gigantischen Synchrongeneratoren in den Kraftwerksblöcken sei das Netz überhaupt nicht regelbar. Ohne sie, so die Netzbetreiber, bräche die Stromversorgung bei der kleinsten Unruhe in den Kraftwerken oder Kabeln zusammen. Deshalb seien sie unverzichtbar, so genannte Must-Run-Units.
Philipp Strauss sieht das anders. „Wir müssen die Netzregelung modernisieren“, fordert der Experte am Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) in Kassel. „Noch immer sollen Großkraftwerke mit ihren Synchrongeneratoren das Netz stabilisieren, auch wenn die Windkraft diese Aufgabe übernehmen könnte.“ Statt die Großkraftwerke vom Netz zu nehmen, werden die Windparks abgeregelt.
20 Blöcke als Notreserve
In einer Studie für die fünf großen Netzbetreiber in Deutschland hat die Forschungsgemeinschaft für Elektrische Anlagen und Stromwirtschaft (FGH) vor Jahresfrist erstmals versucht, den tatsächlichen Regelbedarf der Stromnetze zu ermitteln. Sie bezeichnete die Must-Run-Units als „technische Mindesterzeugung zur Gewährleistung der Systemstabilität“ und bezifferte die erforderliche Kraftwerkskapazität auf bundesweit rund 16 Gigawatt. Das sind 20 Blöcke mit einer Leistung von 800 Megawatt je Block. Die gesamte Kraftwerksleistung für Deutschland hatte die Bundesnetzagentur mit 84 Gigawatt festgelegt. Also ist fast ein Fünftel „unverzichtbar.“
Ausfall eines Großkraftwerks
Wohlgemerkt machten die Forscher die Must-Run-Units nicht daran fest, ob das Netz auf diese Weise überhaupt regelbar ist. Sie ermittelten diesen Bedarf für den Fall, dass irgendwo in Deutschland ein Hochspannungskabel durchbrennt oder ein Großkraftwerk ausfällt. Innerhalb von Millisekunden müssen drei Gigawatt zur Verfügung stehen, um die gröbsten Einbrüche zu glätten. Das ist die sogenannte Regelreserve, falls ein Großkraftwerk schlagartig ausfällt. Die übrigen Blöcke kommen ins Spiel, um regionale Disbalancen in den Teilnetzen auszugleichen. Am höchsten sei der konventionelle Regelbedarf bei Starkwindlagen: Die Analysten wollen dafür bis zu 25 Gigawatt vorhalten.
Wie die Netzbetreiber die Bilanz aus Angebot und Nachfrage regeln, ist kein Geheimnis. Es stimmt: Das konventionelle Stromnetz ist nur regelbar, weil in den Hallen der Kraftwerke gigantische Turbinen und Generatoren laufen, mit tausenden Umdrehungen in der Minute. Dabei ist das technische System bei allen Großkraftwerken gleich, nur der Brennstoff unterscheidet sich – Kohle, Erdgas oder Uran. Die große Hitze in den Brennkammern erzeugt Dampf, der eine Turbine treibt.
Auf der Turbinenwelle sitzt ein Synchrongenerator, in dessen rotierenden Spulen der elektrische Strom entsteht, mit der Netzfrequenz von 50 Hertz. Dampfturbinen und Generatoren für 800 oder 1.500 Megawatt wiegen tausende Tonnen. „Bisher laufen im europäischen Verbundnetz Tausende von Kraftwerken mit sehr großen, rotierenden Massen“, erläutert Eckard Quitmann, Entwickler beim Windradhersteller Enercon. „Auch gibt es sehr viele Lasten mit rotierenden Massen. Sie sorgen dafür, dass, wenn irgendwo eine Störung auftritt, die Frequenz nicht schlagartig auf null sinkt, sondern mit einem gewissen Gradienten abfällt.“
Unter Lasten versteht man Verbraucher mit Synchronmotoren: etwa die Verdichter von Wärmepumpen und Kühlschränken, die Motoren von Kränen, Rolltreppen, Maschinen und Lüftern. Jede rotierende Masse, die direkt ans Netz angeschlossen ist, wirkt mit ihrer Trägheit, nicht nur in den Großkraftwerken: Sie glättet Frequenzsprünge.
Das gilt für alle Synchronmaschinen, denn sie folgen in ihrer Frequenz (Drehzahl) genau dem Netz. Wenn die Frequenz absinkt, schieben die Generatoren zusätzliche Energie ins Netz. Das tun sie von ganz allein, das liegt in ihrer Natur. Niemand legt dafür einen Schalter um. Erst nach mehr als 20 Millisekunden – so viel Zeit braucht die Leitwarte der Netzbetreiber, um zu reagieren – wird die sogenannte Primärregelreserve aktiviert.
Mehr Brennstoff in den Kammern
Bereits laufende Kraftwerke spritzen mehr Brennstoff in die Turbine und damit mehr Leistung ins Netz, um die sinkende Frequenz zu stabilisieren. Eine halbe Minute später greift die Sekundärregelung, durch noch mehr Leistung aus dem Kraftwerksblock. Anschließend treten Pumpspeicherwerke in Aktion. Auch laufen zusätzliche Gasturbinen hoch, um weitere Leistung ins Netz zu drücken. Sie zu zünden und hochzufahren, dauert einige Minuten.
Problem Nummer eins: Damit die rotierenden Massen die Frequenzsprünge im Netz in den ersten Millisekunden glätten können, müssen die Großkraftwerke laufen. Kohlekraftwerke oder Gasturbinen kann man in ihrer Leistung nicht beliebig weit abregeln, weil der Verbrennungsprozess in Gang und die Turbinen und Generatoren auf Netzfrequenz gehalten werden müssen. Sie laufen also immer mit 40 bis 50 Prozent ihrer Nennleistung „in Bereitschaft“ und verstopfen die Stromnetze, auch wenn kein Regelungsbedarf besteht. Nur zwischen 50 und 60 Prozent ihrer Leistung können sie überhaupt für die Primärregelung oder die Sekundärregelung einsetzen. Problem Nummer zwei: Windräder drehen sich zwar auch, aber nicht in der Frequenz des Netzes. Ihre Einspeisung ist meist durch Wechselrichter vom Netz entkoppelt. Sie wirken mit ihrer rotierenden Masse nicht direkt in die Mittelspannungsleitungen, an die sie angeschlossen sind. Es gibt Tage, an denen kein Wind weht. Photovoltaikgeneratoren haben keinerlei rotierende Teile. Droht nun das Chaos im Netz?
Must-Run-Units überflüssig
Der Frequenzkorridor im deutschen Stromnetz liegt zwischen 49,8 und 50,2 Hertz. Ist zu wenig Strom vorhanden, um den Bedarf zu decken, sinken Frequenz und Spannung. Besteht ein Überangebot – etwa bei Starkwind am Ostersonntag – gehen Frequenz und Spannung nach oben. Für das Problem der rotierenden Massen ist nur die Frequenz interessant, also die kaum merkliche Veränderung der Drehzahl der Generatoren und Motoren. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen meinen, dass ein zentraler „Dirigent” (Must-Run-Unit) im künftigen Stromnetz überflüssig ist: Dezentrale Erzeuger und die Verbraucher synchronisierten sich in einem simulierten Stromnetz selbst. Darüber zeigen die Forschungen, dass der Ausfall einer einzigen Leitung in einem dezentral organisierten Stromnetz nicht so leicht zu einem Stromausfall im gesamten Netz führt. Eher weniger Chaos, mehr Stabilität und Netzsicherheit?
Blindleistung in der Nacht
Windräder können bereits Blindleistung ins Netz einspeisen, um Reserven in den Kabeln locker zu machen. Große Solarwechselrichter können das auch, sogar nachts, ohne Sonne. Auf diese Weise senken sie die Kosten für den Netzausbau erheblich. Nun geht es ans Eingemachte, an die Netzsteuerung in den ersten kritischen Millisekunden. Denn die rotierenden Massen der Großkraftwerke lassen sich durch die Wechselrichter in den erneuerbaren Kraftwerken künstlich nachbilden. „Das Stichwort lautet: künstliche Massenträgheit“, sagt Eckard Quitmann von Enercon. Philipp Strauss vom IWES spricht von Anlagen, „die synthetisch diese Trägheit dem Netz aufprägen“. Damit gewinne man Zeit. „Man könnte sogar überlegen, das Netz noch träger zu machen, als es heute ist“, sagt er. „Und damit noch stabiler und noch sicherer.“
Experimentell ist das bereits gelungen. In einer gigantischen Versuchshalle im Berliner Stadtteil Adlershof haben die Ingenieure der Firma Younicos die Stromversorgung der Insel Graciosa im Atlantischen Ozean nachgebaut. Der Strom der Insulaner wird in einem großen Dieselgenerator erzeugt, dessen Double in der Halle steht. Künftig soll der Strom aus Wind und Sonne kommen. Younicos nutzt eine gigantische Natrium-Schwefel-Batterie mit sechs Megawattstunden Kapazität, um eine Regelreserve für das Inselnetz vorzuhalten. Sie kann den Dieselgenerator mit seiner Schwungmasse in wenigen Millisekunden ersetzen. Younicos hat die Netzsicherung über die Batterie so beschleunigt, dass sie das Netz faktisch automatisch führt. Diese Steuerung kommt ohne die Schwungmassen des Diesels aus.
Batterien als Knackpunkt
Der zentrale Knackpunkt ist die Batterie, meint Bernhard Ernst, bei SMA in Kassel für die Netzintegration zuständig. SMA ist der größte Hersteller von Solarwechselrichtern. „Auch wir bei SMA befassen uns mit diesem Problem“, bestätigt er. „Derzeit befindet sich der neue ENTSO-E Network Code in der Endabstimmung, der solche Funktionen vorsieht. Darin wird vorgeschrieben, dass ab 2017 alle großen Solarparks die künstlichen Schwungmassen bereitstellen müssen. Das kann theoretisch jeder Batteriewechselrichter.“ ENTSO-E steht für European Network of Transmission System Operators for Electricity, dem Verbund von europaweit 48 Netzbetreibern.
Nach seiner Auffassung reicht ein kleiner Batteriespeicher aus, damit die Solaranlagen jederzeit – auch nachts – als künstliche Schwungmassen fungieren. Denn die Trägheit der rotierenden Massen ist nichts anderes als gespeicherte Energie.
Jeder Wechselrichter kann das
Woher sie kommt, ist zweitrangig. „Denkbar wäre, statt eines Speichers zusätzliche Modulreihen aufzubauen, die als Reserve zur Verfügung stehen“, erläutert Bernhard Ernst. „Das ist aber unwirtschaftlich, weil diese Module die meiste Zeit nicht genutzt werden. Deshalb werden vor allem kleine Stromspeicher diese Aufgabe übernehmen.“
Bisher mussten die Wechselrichter noch nicht als künstliche rotierende Massen agieren. Das europäische Verbundnetz ist sehr groß und liefert genug rotierende Massen, selbst für den Fall, dass es in Deutschland weniger Dampfturbinen und Synchrongeneratoren gibt. Dass die Batterien im Stromnetz eine wachsende Rolle spielen werden, dessen ist sich Ernst sicher: „Ich prophezeie: In zehn Jahren werden wir so viele dezentrale Speicher haben, dass sie systemrelevant sein werden. Wir haben in den letzten Jahren pro Jahr über sieben Gigawatt Wechselrichterleistung für die Photovoltaik aufgebaut. Es gibt keinen Grund, warum es bei Batteriewechselrichtern nicht ebenso schnell gehen könnte.“
Ein Netz ohne Turbinen
Am IWES in Kassel laufen unterdessen grundsätzliche Forschungen zur Regelbarkeit von Netzen, in denen hauptsächlich Strom aus Wind und Sonne zirkuliert. „Wenn ich einen Leistungsüberschuss im Netz habe, dann ist das eigentlich nichts anderes als dass die gesamten Maschinen im Netz die Frequenz nach oben treiben“, erklärt Philipp Strauss. „Wenn da nicht viele Maschinen sind, nicht viele Schwungmassen, dann geht die Frequenz relativ schnell hoch. Und wenn ich viele kleine Anlagen habe, die automatisch diese Energie aufnehmen oder weniger abgeben, dann erreiche ich eben genau diesen dämpfenden Effekt, den ich bisher aus den konventionellen Kraftwerken hatte.“ Sein Resümee: „Viele kleine, dezentrale Generatoren können die Stabilität des Stromnetzes sogar verbessern.“
Nützliche Links:
PilotProjekt in Berlin
Vattenfall bunkert Regelenergie
In einem gemeinsamen Pilotprojekt haben Younicos und der ostdeutsche Stromversorger Vattenfall die europaweit erste Großbatterie in Betrieb genommen, um damit in den Markt für Regelenergie einzugreifen. Seit Ende 2012 gleicht eine Ein-Megawatt Natrium-Schwefel-Batterie in der Versuchshalle von Younicos in Berlin kurzfristige Netzschwankungen aus. Damit trägt erstmals eine Batterie zur Sicherung der Netzfrequenz von 50 Hertz bei. „Speicher und intelligente Netzregelung sind der Schlüssel für eine sichere Stromversorgung durch Wind und Sonne“, analysiert Clemens Triebel, Chef von Younicos. „Wir zeigen, wie erprobte, industriell verfügbare leistungsstarke Großbatterien effektiv und wirtschaftlich eingesetzt werden.“
Die Großbatterien können kurzfristige Netzschwankungen schnell und wirtschaftlich ausgleichen. Bisher machen das konventionelle Kraftwerke, die deshalb auch bei eigentlich ausreichend vorhandenem Wind- und Sonnenstrom immer am Netz bleiben müssen. „Der Einsatz von Batterien am Primärregelleistungsmarkt entlastet die Netze, schafft mehr Platz für erneuerbare Energien – und ermöglicht ganz neue Geschäftsmodelle“, urteilt Clemens Triebel. Alfred Hoffmann, bei Vattenfall für den Bereich Asset Optimisation Continental verantwortlich, stellt in Aussicht: „Vattenfall arbeitet daran, weitere, noch größere Batterien in die Steuerung seines Kraftwerksparks einzubinden und zu betreiben.“
Vattenfall vermarktet die Batterie im Pool mit anderen Erzeugungseinheiten am Markt für Primärregelleistung. Das Unternehmen garantiert die Bereitstellung der Leistung, auch wenn die Einheit aufgrund von Wartungsarbeiten nicht zur Verfügung steht. Durch die von Younicos entwickelte Leistungsregelung gleicht die Batterie Frequenzschwankungen in weniger als 200 Millisekunden aus. Das ist ein Bruchteil der 30 Sekunden, die für die Primärregelleistung gefordert werden. Durch die höhere Regelgeschwindigkeit wird auf Schwankungen viel schneller und damit effizienter reagiert. HS