Eine größere optische Veränderung könnte ein Gebäude durch die Sanierung kaum erfahren: Anstelle alter, grauer Betonplatten an der lang gezogenen Fassade erzeugen nun Solarmodule saubere Energie. Das Flachdach wurde zum Pultdach, damit es die optimale Neigung hat, um dort ebenfalls Solarstrom zu erzeugen.
Hinter dieser modernen Optik verbirgt sich aber noch viel vom alten Plattenbau aus der DDR. Denn das war das Ziel von Mike Eley, Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft (AGW): Um wertvolle Ressourcen und graue Energie zu sparen, wollte er so viel wie möglich von der Bausubstanz des Plattenbaus aus den 1970er-Jahren erhalten. Und er wollte ein zukunftsfähiges regeneratives Energiekonzept für sein Bauvorhaben in Aschersleben in Sachsen-Anhalt.
Völlig neues Modell zur Vermietung
Dieses entwickelte Prof. Dipl.-Ing. Timo Leukefeld, Energieexperte und Planer von hochgradig energieautarken Mehrfamilienhäusern. Damit sich die aufwendige Sanierung für das Wohnungsunternehmen langfristig lohnt, empfahl Leukefeld ein neues Vermietermodell mit Pauschalmiete und Energieflatrate. Hierfür ist aufgrund der niedrigen Gestehungskosten ein hoher Solarertrag für die Versorgung mit Strom und Wärme der Schlüssel. Der Plan ging auf: Die AGW saniert aktuell den dritten Plattenbau nach dem gleichen Konzept. Leukefeld und sein Autarkie-Team haben mittlerweile Energiekonzepte für hochgradig energieautarke Mehrfamilienhäuser mit rund 900 Wohnungen im In- und Ausland geplant. Erste Bauunternehmen spezialisieren sich auf diesen Gebäudetyp.
Solarer Strom, solare E-Wärme
In der Kopernikusstraße 10 bis 14 in Aschersleben steht der erste Plattenbau der AGW, der in den Jahren 2021 bis 2023 saniert wurde. Zwei Geschosse wurden abgetragen, erweiterte Zugänge geschaffen und 22 Wohnungen mit 1.773 Quadratmetern Wohnfläche eingebaut. Auf dem neuen Pultdach und an den Fassaden in Richtung Süden, Osten und Westen wurden Photovoltaikanlagen mit insgesamt 184 Kilowatt installiert.
Zwei Stromspeicher mit jeweils 144 Kilowattstunden Kapazität stehen im Gebäude. Anstelle eines wasserführenden Heizsystems wurden Infrarotheizungen in die Wohnungen eingebaut. Leukefeld plant mit elektrischen Direktheizungen, da sie vergleichsweise kostengünstig in der Anschaffung sind und keine Verrohrung benötigen. Die IR-Heizplatten werden einfach an die Steckdose angeschlossen – einfacher geht es nicht.
Zudem sind die Folgekosten gering, da sie keine Wartung und Instandhaltung benötigen. Dadurch entfallen teure Handwerkerstunden. Für die Warmwasserbereitung erhielt jede Wohnung einen 200 Liter fassenden Warmwasserboiler (Autarkie-Boiler).
Rund 60 Prozent Deckungsgrad
Im Mai 2023 konnten die ersten Mieter einziehen. Die Bewohner der Wohnungen ohne Aufzug erhielten einen Pauschalmietpreis von 11,50 je Quadratmeter, der auf fünf Jahre festgesetzt ist. Darin sind die Kosten für den Haushaltsstrom, die Heizung und die Brauchwasserbereitung enthalten.
Die günstige Pauschalmiete ist nur durch den hohen solaren Deckungsgrad von rund 60 Prozent möglich. Der Eigentümer, in diesem Fall die AGW, kann mit den niedrigen Gestehungskosten des Solarstroms und langfristig sicheren Energiekosten planen, spart sich aufwendige Nebenkostenabrechnungen und kann modernen Wohnraum anbieten. Die Mieter andererseits profitieren von überschaubaren Mietpreisen ohne Furcht vor explodierenden Nebenkosten.
Vor Kurzem hat Leukefelds Autarkie-Team die Energiebilanz für den Zeitraum Mai 2023 bis Dezember 2024 vorgelegt: 95 Prozent des prognostizierten Solarstroms wurden erzeugt. 99 Prozent des kalkulierten Direktstromverbrauchs sind eingetreten. 116 Prozent des erwarteten Netzbezugs wurden gemessen und 101 Prozent der erwarteten Einspeisung. „Der höhere Netzbezug resultiert aus den Verbräuchen der technischen Anlage und der E-Mobilität, passt aber in unsere erwartete Pilotphase“, erklärt Eley dieses Ergebnis. Wenn die Photovoltaikanlagen nicht genügend Strom erzeugen, wird Ökostrom vom Energieversorger bezogen.
Drei sanierte Plattenbauten
Eley war mit dem Konzept zufrieden und hat ab Mai 2023 den zweiten Plattenbau saniert. Dieser steht direkt hinter dem ersten in der Kopernikusstraße 4 bis 8. Auch hier sind 22 Wohnungen mit 1.839 Quadratmeter Wohnfläche entstanden. Im Oktober 2024 konnten die Mieter einziehen. Sie zahlen eine Pauschalmiete einschließlich Energiekosten in Höhe von 12,85 Euro je Quadratmeter. Den Mietpreis hat die AGW aufgrund der höheren Finanzierungskosten und der Zinssteigerung von einem auf 3,6 Prozent erhöht.
In der gleichen Reihe, allerdings mit der Adresse Keplerstraße 4 bis 10, steht der dritte Plattenbau, der zurzeit saniert wird. Die ersten der 30 Wohnungen sollen Ende 2025 bezugsfertig sein. „Das Gebäude- und Energiekonzept ist bei allen drei Wohnhäusern nahezu gleich“, sagt Eley. „Wir haben bei jedem Wohnhaus ein wenig an den Grundrissen gefeilt.“
Mittlerweile hat er sich an die vielen Anfragen gewöhnt, die ihn erreichen. Vor allem mit dem ersten spektakulären Umbau hat er für Schlagzeilen gesorgt. Nicht nur aus Sachsen-Anhalt kommen Interessenten, vor allem von Wohnungsunternehmen, die bauen oder vermieten. Aus ganz Deutschland kommen die Gäste, wie demnächst eine Gruppe aus München, und auch aus Frankreich hat schon eine Delegation das ungewöhnliche Solarhaus besucht.
Neues Geschäftsfeld bringt Aufträge
Markus Rössler, geschäftsführender Gesellschafter der bayerischen Rössler Wohnbau GmbH, hat es mit seinem ersten hochgradig energieautarken Mehrfamilienhaus bis auf die Titelseite des Magazins „Spiegel“ geschafft. Es war das erste Gebäude seiner Art in Bayern. „Das wohl sparsamste Mehrfamilienhaus Deutschlands“, titelte das Magazin im August 2024.
Auch hierfür hat Timo Leukefeld das Energiekonzept geplant. Im November 2022 war das Gebäude mit KfW-Standard Effizienzhaus 40 plus bezugsfertig. Es hat 325 Quadratmeter beheizte Wohn- und Nutzfläche. Die fünf Wohnungen sind zwischen 45 und 95 Quadratmeter groß.
Auf dem Dach und an der Balkonbrüstung sind Photovoltaikanlagen mit 49,15 Kilowatt Gesamtleistung in Betrieb. Der Stromspeicher hat 59,5 Kilowattstunden Kapazität. In den Wohnungen sorgen Infrarotheizungen für Wärme, Autarkie-Boiler erhitzen dezentral das Dusch- und Trinkwasser.
Durch die erste Jahresenergiebilanz weiß Rössler, dass der solare Deckungsgrad für Strom und Wärme real bei 68 Prozent liegt. Von dem erzeugten Solarstrom verbrauchten die Bewohner in dem Jahr 17.432 Kilowattstunden direkt. 30.204 Kilowattstunden wurden zu einem Tarif von 7,6 Cent ins Verteilnetz eingespeist. Der Zukauf von Strom lag bei 7.936 Kilowattstunden zu 29 Cent brutto je Kilowattstunde.
Anpassung der Pauschalmiete
Markus Rössler, der auch Vermieter der Wohnungen ist, hatte zunächst Zwei-Jahres-Verträge mit einem Pauschalmietpreis inklusive Energiekosten von 12,50 Euro je Quadratmeter abgeschlossen. Auf Basis dieser Erfahrungen und der allgemeinen Preisentwicklung hat er den Pauschalmietpreis in dem auf fünf Jahre befristeten Anschlussvertrag auf 14,50 Euro je Quadratmeter erhöht. Die höhere Grundsteuer, höhere Versicherungsprämien und die allgemeine Inflation nennt er als Gründe für die Erhöhung. Allerdings ist nun auch das Internet inklusive.
Je nach Größe der Wohnung hat er Obergrenzen für den Stromverbrauch pro Wohnung zwischen 5.000 bis 7.500 Kilowattstunden pro Jahr festgesetzt. 2024 wurde die Grenze zum ersten Mal überschritten, erzählt der rührige Bauunternehmer. Er begründet dies damit, dass der Mieter im Homeoffice arbeitete und es ein kalter Winter war.
Den Strom, der über den vereinbarten Verbrauch hinausgeht, kauft Rössler zum günstigsten Tarif beim Energieversorger – im Jahr 2024 für 26 Cent je Kilowattstunde. Davon zieht er zehn Prozent ab und berechnet dem Mieter den Preis für den exakten zusätzlichen Verbrauch weiter.
Der Solarstrom könnte auch für Elektrofahrzeuge genutzt werden, zurzeit fährt aber kein Mieter elektrisch. Rössler will den Service trotzdem anbieten und hat einen Supercharger vor dem Haus installiert, der öffentlich zugänglich ist.
Mehr Aufträge für EFH und MFH
Für das innovative Konzept hat Rössler Wohnbau viel Aufmerksamkeit bekommen – und neue Kunden gewonnen. Nach dem Pilotprojekt hat das Unternehmen für einen Investor in Rain im schwäbischen Landkreis Donau-Ries ein Mehrfamilienhaus gebaut. Das Haus hat KfW-Standard Effizienzhaus 40, sieben Wohnungen mit 35 bis 96 Quadratmetern Wohnfläche und eine beheizte Wohn- und Nutzfläche von 408 Quadratmetern.
Die Photovoltaikanlage auf dem Dach und an der Balkonbrüstung leistet 54 Kilowatt, der Stromspeicher fasst 50,4 Kilowattstunden. Der errechnete solare Deckungsgrad liegt bei 61 bis 66 Prozent. Rösslers Kunde vermietet ebenfalls mit Pauschalmiete zu 16,80 je Quadratmeter inklusive Nebenkosten, Energiepauschale und Internet.
Er berichtet von weiteren Bauprojekten mit dem gleichen Energiekonzept: Ein Einfamilienhaus hat er abgeschlossen, ein weiteres ist derzeit im Bau. Seit Dezember 2024 baut er in Obergriesbach ein Mehrfamilienhaus mit zehn Wohnungen. Im Sommer beginnt er mit einem Haus mit sieben Wohnungen in Friedberg. Zwei weitere mit jeweils fünf Wohnungen werden aktuell geplant.
Fachkonferenz im April
Über mangelnde Nachfrage kann Rössler, der 15 Mitarbeiter beschäftigt, also nicht klagen. 90 Prozent seines Auftragsvolumens seien hochgradig energieautarke Häuser, sagt er. Der solare Deckungsgrad liege zwischen 65 und 75 Prozent. Manchmal baut er noch herkömmlich, zum Beispiel, wenn ein Kunde Anschlusspflicht für das Fernwärmenetz hat.
Auf der Konferenz „Infrarotheizung: Wirtschaftlichkeit im Fokus“ am 3. April 2025 in Würzburg stellen Timo Leukefeld und Markus Rössler in dem gemeinsamen Vortragsblock „Hochgradig energieautark bauen, wirtschaftlich wohnen – Impulse aus der Praxis“ das Bau- und Energiekonzept sowie Projekte vor. Veranstalter ist der Branchenverband IG Infrarot Deutschland. Die Konferenz richtet sich an Fachleute aus der Wohnungswirtschaft, Solarbranche, Architektur und Planung sowie an Gebäudeenergieberaterinnen und Energieberater.