Ein fliegender Drache, eine Schlange, die ihre Beute einkreist, ein Flusslauf – das neue Stadion in Kaohsiung im südlichen Taiwan weckt zahlreiche Assoziationen. Bildet es aus der Ferne betrachtet eine geschlossene Form, so scheint es sich durch Annäherung immer weiter aufzulösen. Inmitten einer tropischen Parklandschaft reihen sich geschwungene Betonbögen aneinander wie die Wirbelsäulenglieder eines Urzeittieres, das sich gerade schlafen legt. Auskragende Fachwerkstützen tragen das Stadiondach, umwickelt von spiralförmig verlaufenden, weißen Stahlröhren. Die Stahlröhren streben gleichmäßig in den Himmel oder beschleunigen den Rundblick entlang des Stadionovals, je nach Blickwinkel. Blau schimmern die Schuppen auf dem Rücken des Reptils. Eingebettet zwischen den diagonal verlaufenden Röhren bilden 8.844 Solarmodule die Dachhaut.
Bau im Regierungsauftrag
Schöpfer dieses in vielerlei Hinsicht besonderen Stadions ist der japanische Stararchitekt Toyo Ito. Gemeinsam mit Takenaka, einer der größten japanischen Baufirmen, deren Ursprung im Tempelbau liegt, realisierte Ito den Neubau mit 40.000 Zuschauerplätzen als Hauptaustragungsort der World Games 2009 in Kaohsiung. Die World Games geben denjenigen Sportarten ein internationales Forum, die nicht bei der Olympiade zugelassen sind. Im Juli diesen Jahres wurden die Spiele zum achten Mal ausgetragen. Um die 3.235 Athletinnen und Athleten aus 90 Ländern willkommen zu heißen, ließ die Regierung das neue Stadion errichten. Es ist das erste Taiwans, das sowohl den Standards der Internationalen Leichtathletikorganisation IAAF als auch den Regeln der Fußballvereinigung FIFA entspricht. Da die World Games nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie die Olympischen Spiele, gab es auch viel weniger Aufregung um Toyo Itos Stadion als um das Vogelnest von Herzog und de Meuron in Beijing im letzten Jahr. Zu Unrecht, denn Itos Bauwerk schafft eine außergewöhnliche Vereinigung von Widersprüchen: eine geschlossene Sportarena, die sich gleichzeitig zur umgebenden Parklandschaft und zur Stadt hin öffnet.
Sportstätte mit weitläufiger Parklandschaft
Nach zweijähriger Bauzeit wurde das Stadion im Januar 2009 fertiggestellt. Noch vor der Eröffnungsfeier im Mai pilgerten mehr als 200.000 Besucher zu der neuen Sportstätte, die gleichzeitig eine weitläufige Parklandschaft bietet. Besucher, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus dem Stadtzentrum kommen, laufen erst einmal einen breiten Boulevard entlang, bevor sie auf den Vorplatz einbiegen. Von dort leitet sie der Schwanz des Stadionkörpers, in dem sich Kartenschalter und Restaurants befinden, zu den Eingangstoren. Der Platz selbst steigt zum Stadion hin an. Ist man einmal drinnen, fällt die Fläche ab und verwandelt sich in einen grasbewachsenen Hang, der den Blick über das Spielfeld freigibt. Architekt Toyo Ito stellt sich vor, dass bei vielen Veranstaltungen der Rasen für die Öffentlichkeit frei zugänglich sein wird, so dass die Zuschauer sich hinein- und hinaustreiben lassen können, ohne Eintrittskarten zu kaufen.
Die Dachstruktur, die sich um das ganze Stadion herumdreht und Sonnenstrom produziert, vergleicht Ito mit einem lebenden Organismus. Auf rund 13.000 Quadratmetern sind Photovoltaikmodule installiert. Die 8.844 Module belegen knapp zwei Drittel der gesamten Dachfläche. Gleichzeitig bilden sie den Abschluss des großen, dreidimensional gebogenen Daches. Das Dach besteht insgesamt aus drei Schichten – aus den auskragenden Fachwerkbindern, den spiralförmigen Stahlröhren und der Photovoltaikkonstruktion. Die c-förmigen Fachwerkbinder nehmen die Hauptlast auf. Insgesamt 159 Träger, die im Verlauf der Gebäudekrümmung ihre Größe verändern, sind auf dem Gelände installiert. 32 spiralförmig verlaufende Stahlröhren winden sich um diese Binder herum und verbinden sie miteinander. Die Stahlröhren sind außerdem wichtige Tragelemente, die punktuell auftretende Lasten, wie Erschütterungen durch Erdbeben oder Winddruck, abfangen.
Ganz oben bilden Solarmoduleinheiten mit Breiten von 2,5 bis 3,5 Metern die Dachhaut. Dabei sind jeweils zwei der annähernd quadratischen, semitransparenten Glas-Glas-Module zusammen mit einem opaken Glasfeld in einen Aluminiumrahmen eingepasst. Ein opaker Randstreifen ermöglicht die Variation in der Breite. Die heimische Kinmac Solar, ehemals Luckypower Technology Company, hat den Großauftrag zur Herstellung der Module mit polykristallinen Zellen ausgeführt. Die Rahmen sind zwischen zwei nebeneinanderliegenden Stahlröhren aufgehängt. Gewisse Toleranzen zwischen der dreidimensionalen Dachkonstruktion und den zweidimensionalen Solarmodulen sind dabei unvermeidbar. Gefaltete Gummilippen gleichen diese aus. Zusätzlich lassen sich die Verbindungsstücke an den Röhren in unterschiedlichen Winkeln und Positionen montieren.
Mehr Sonne als in Freiburg
Die Hafenstadt Kaohsiung, die im Süden der knapp 400 Kilometer langen Insel liegt, ist im Durchschnitt mit 2.282 Sonnenstunden pro Jahr gesegnet. Mit durchschnittlich fünfeinhalb Stunden pro Tag ist das ein Viertel mehr als in Freiburg. „An einem wolkenlosen Tag kann die Solarstromanlage den während einer Veranstaltung im Stadion benötigten Strom zu 80 Prozent bereitstellen“, sagt Charles Lin, Leiter des Hochbauamtes in Kaohsiung. Mit einer Spitzenleistung von 1,03 Megawatt produziert die Anlage voraussichtlich 1,14 Millionen Kilowattstunden pro Jahr, genug um sowohl den Stadionbetrieb zu decken, als auch eine beträchtliche Anzahl umliegender Wohnhäuser zu versorgen.
Neben der riesigen Solarstromanlage hat Toyo Ito acht weitere Maßnahmen des „Green Building Standard“, der taiwanesischen Richtlinie für nachhaltiges Bauen, beim Stadionneubau umgesetzt. Ito baute das Stadion um einen existierenden Wald herum, anstatt diesen abholzen zu lassen. Nach Auskunft des Architekten sind alle Materialien wiederverwertbar und wurden vor Ort in Taiwan hergestellt. Das Regenwasser wird aufgefangen, die Beleuchtung ist mit LED-Lampen bestückt. Durch die offene Struktur wird das Stadion natürlich belüftet. Im Sommer lässt das Tragwerk den Südwestwind herein, der für milde Temperaturen im Stadion sorgt. Die direkte Sonneneinstrahlung halten die semitransparenten Solarmodule ab, die die Dachfläche bedecken. Insgesamt belegt das Stadion nur etwas mehr als ein Zehntel des 18 Hektar großen Geländes. Die restlichen Flächen hat Ito in einen Park verwandelt. Fahrradwege und Teiche, Palmen und andere tropische Pflanzen bieten den Bewohnern von Kaohsiung ein neues Ausflugsziel.
Mit umgerechnet 103 Millionen Euro hat die Taiwanesische Regierung den Stadionbau komplett finanziert, ohne Unterstützung durch die World Games Organisation zu erhalten. Seit der Fertigstellung erhoffen sich die Bürger von Kaohsiung, dass das vorbildliche und eindrucksvolle Bauwerk ihnen internationale Aufmerksamkeit beschert. Das Image der dreckigen Hafenstadt soll nun dem neuen Bild eines Hightech-Zentrums für den Welthandel weichen, so wie es das Guggenheim-Museum in Bilbao geschafft hat.
Während die Menschen in Kaohsiung den weitläufigen Park bevölkern, kümmert sich die Regierung nach Abschluss der internationalen Spiele um den Betrieb des Veranstaltungsorts. Sie hofft darauf, weitere hochrangige Sport- und Kulturveranstaltungen nach Kaohsiung einladen zu dürfen. Das Leben des Kaohsiung-Stadions hat gerade erst begonnen – im Gegensatz zum Vogelnest in Beijing, das seit dem Ende der Olympischen Spiele brachliegt und bald zur Shopping Mall umfunktioniert werden soll.