Ferropolis bedeutet „Stadt aus Eisen“. Das klingt weder modern noch schick, sondern nach schwerer Industrie und harter Arbeit. In der Tat ist das Gelände bei Dessau ein ehemaliger Braunkohletagebau. Thies Schröder entwickelt diesen Standort seit Jahren weiter, er sucht nach einer neuen und nachhaltigen Nutzung für das Gelände. Die Aufgabe ist nicht gerade leicht. Immerhin gilt es, das kulturelle Erbe der Bergbauarbeiter zu wahren und gleichzeitig einen Schritt in die (Energie-)Zukunft zu gehen.
52 Prozent Ökostrom
Eine Photovoltaikanlage mit 210 Kilowatt Leistung arbeitet bereits auf der Kohlehalde und liefert zuverlässig Strom. Beispielsweise für das jährlich stattfindende Melt-Festival. 20.000 Besucher lauschen im Spätsommer Elektro- und Indierockbands. Im vergangenen Jahr war sogar die australische Sängerin Kylie Minogue auf der Bühne. „Genau diese Tausenden von Musikfans verursachen unser seltenes Lastprofil“, sagt der studierte Landschaftsplaner Schröder. Konkret: An fünf Tagen im Jahr entspricht der Energieverbrauch der einer Kleinstadt. Die restlichen 360 Tage werden nur wenige Kilowattstunden verbraucht.
Bei der Energieavantgarde Anhalt geht es um die Region um Bitterfeld, Dessau und Wittenberg. Hier leben rund 380.000 Menschen. Laut der Energymap der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie deckt das Bundesland Sachsen-Anhalt 52 Prozent des Bedarfs mit Ökostrom. Zum Vergleich: Im bundesweiten Strommix ist nur rund jede dritte Kilowattstunde grün. Die Region Bitterfeld kommt mit 65 Prozent Ökostromanteil sogar auf den doppelten Wert. Bitterfeld ist historisch zwar als Chemiestandort bekannt. Aber genau aus diesem Grund entstand dort später das Solar Valley. Der einst weltgrößte Modulhersteller Q-Cells fertigte hier, bevor das Unternehmen vom südkoreanischen Konzern Hanwha übernommen wurde.
80 Euro mehr pro Einwohner
Der ständige Wandel ist den Bürgern in der Region vertraut. Auch deshalb gilt es, den Wegfall der Kohlejobs aufzufangen und den Menschen neue Perspektiven zu geben. Genau deshalb könnte der dezentrale Ansatz auch besser für die Einwohner sein. Laut einer Studie des Reiner Lemoine Instituts aus Berlin sind für einzelne Regionen pro Anwohner beim dezentralen Ausbau bis zu 80 Euro jährlich mehr zu erzielen als beim zentralen Ausbau. Zudem kann eine dezentrale Energieversorgung besser flexible Optionen bieten. So wird Strom für Wärme und Mobilität genutzt oder gespeichert und eine Last einfacher verschoben.
Autarke Versorgung unwirtschaftlich
„Es wurde mit den Jahren immer klarer, dass wir nicht bei einer Photovoltaikanlage stehen bleiben“, beschreibt Schröder die Entwicklung bei Ferropolis. Eine autarke Versorgung mit Batteriespeichern ist aber für das Gelände nicht wirtschaftlich. So erkannten die Initiatoren um Schröder die gemeinsamen Anliegen mit der Stiftung Bauhaus: Beide waren an einer Transformation interessiert, die nicht nur die Wirtschaft, sondern gerade auch die Menschen und die Gesellschaft mit in den Fokus nimmt.
Anfang 2015 wurde die Energieavantgarde Anhalt gegründet. Schröder ist seitdem Geschäftsführer des Vereins. Mitglieder sind Privatpersonen, die Sparkasse Dessau, die Stiftung Bauhaus sowie die Dessauer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft und Köthen Energie sowie Solarmodulhersteller Calyxo aus Thalheim.
Regionale Akteure vernetzen
„Der Verein selbst wird nicht in Technologie oder konkrete Projekte investieren, das werden die Unternehmen stemmen“, erklärt Schröder. Bis 2018 soll es sichtbare Ergebnisse geben, so die Zielsetzung. Oberste Priorität hat dabei der Aufbau eines regionalen Energiesystems, das mehr und mehr auf erneuerbaren Energien fußt. Außerdem soll auch die Wende hin zu einer ökologischen Wärme- und Kälteversorgung mitgedacht werden, genauso wie eine grünere Mobilität mit Ökostrom.
Der Marktplatz würde die regionalen Akteure stärker untereinander vernetzen. Gleichzeitig muss das Konzept künftig offen für neue Teilnehmer bleiben. Ziel ist es, die Bürger stärker einzubinden. Ein regionaler Marktplatz könnte Prosumenten eine ganz andere Rolle zuweisen. Denn Fakt ist, dass immer mehr Bürger sowie Firmen aus Handel und Gewerbe immer häufiger selbst Strom für den eigenen Bedarf produzieren. Der Verein will und muss die Einwohner über ihre zukünftigen Aufgaben und die Möglichkeiten informieren. Nach den ersten selbst veranstalteten Energietagen werden Schröder und Co. nun immer häufiger zu Veranstaltungen und Vorträgen eingeladen, um ihr Projekt vorzustellen.
Für die Akzeptanz der Energiewende ist es wichtig, dass möglichst viel Ökoenergie auch regional verbraucht wird. Und dass die Wertschöpfung zu einem möglichst großen Anteil vor Ort generiert wird. Die Lutherstadt Wittenberg verbraucht jährlich rund 600 Gigawattstunden, die energieintensive Chemieindustrie in Bitterfeld zieht 884 Gigawattstunden aus dem Netz.
Energiearmut bekämpfen
Ende 2015 waren dem Übertragungsnetzbetreiber 50 Hertz zufolge Ökostromanlagen mit rund 6,8 Gigawatt Leistung im Bundesland Sachsen-Anhalt installiert. Das Gros entfällt dabei auf die Windenergie. „Die Umstellung hin zu erneuerbaren Energien kommt so oder so“, sagt Schröder. Aber ein vollständig liberaler Markt, in dem sich jeder nur um sich selbst kümmere, könne nicht das Ziel sein. „Das zementiert eine soziale Unausgewogenheit.“ Eine Gesellschaft, in der ein Drittel der Einwohner in Energiearmut lebe, gelte es zu bekämpfen, betont Schröder.
Die Politik der Bundesregierung zielt derzeit in eine andere Richtung: „Sie fokussiert sich mehr auf einen europäischen Energiemarkt als auf eine regionalere Gestaltung der Märkte“, kritisiert Schröder. Allerdings wächst das Interesse an einem Modell der regionalen Versorgung bei den Stadtwerken umso mehr. Die Stadtwerke Dessau wollen 2023 aus der Kohlestromerzeugung aussteigen – und suchen deshalb nach Alternativen.
In einer Crowdfunding-Aktion sammelt der Verein derzeit Gelder, um ein oder mehrere Photovoltaikanlagen auf dem Dach der Hochschule in Dessau zu installieren. Die beteiligten Bürger sollen aus der Region kommen und so direkt partizipieren. Vom Austausch des gewonnenen Wissens und den Erfahrungen profitieren viele Akteure und die Politik.
Der Verein hat zudem eine regionale Merit Order errechnen lassen. Diese sortiert die Energieerzeugungsanlagen gestaffelt nach den Kosten der Stromproduktion. Dadurch lässt sich eine Art Ausbaupfad ableiten. Beispielsweise ist Schwachwind demnach schon ab 2018 der günstigste Energieträger der Region. Wind wird in der Region die Kohle der Zukunft sein. Auch Unternehmen aus der Ökostrombranche und Speicherhersteller wie Tesvolt aus Wittenberg sind der Initiative Energieavantgarde beigetreten.
Es gab durchaus Vorbehalte, beispielsweise gegenüber der RWE Stiftung und wie ernst sie es mit einer Erneuerung des Energiesystems meinen würde. Andererseits gibt die Stiftung des Energiekonzerns einen erheblichen Teil der Gelder. Die Energieavantgarde Anhalt bezeichnet sich auch als Reallabor. Sie gehört zudem zum Schaufensterprojekt Windnode, eines von insgesamt fünf geförderten Vorhaben des Bundeswirtschaftsministeriums, die je eine Blaupause für das Energiesystem der Zukunft abbilden.
Der Anspruch der Avantgarde wird dann nicht mehr nur mit Dessau und der Bauhausarchitektur von Walter Gropius verbunden sein. Sondern mit Ferropolis und einer Region, die sich intelligent mit Ökostrom versorgt.
Agentur für Erneuerbare Energien
Bürger und Stadtwerke stemmen die Energiewende gemeinsam
Die Energiewende stelle das Energiesystem vor große Herausforderungen, biete Kommunen, kommunalen Unternehmen und den Bürgern aber auch die Möglichkeit, am Umbau der Energieversorgung mitzuwirken und davon zu profitieren. Mit dieser Feststellung leiten der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) ihre neue Broschüre zur Bürgerbeteiligung ein. Unter dem Titel „Stadtwerke und Bürgerbeteiligung – Energieprojekte gemeinsam umsetzen“ zeigen die kommunalen Verbände zusammen mit der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) und der Deutschen Kreditbank, wie Energiewende vor Ort geht. Anhand von zahlreichen Praxisbeispielen machen die Projektpartner deutlich, wie Bürger und Stadtwerke erfolgreich in der Energiewende zusammenarbeiten.
In Zeiten, in denen die Bundesregierung alles tut, um die Bürger von der Energiewende weiter auszuschließen ist, kommt die Broschüre genau richtig. Denn sie zeigt, dass die Energiewende ein Gemeinschaftsprojekt ist, zu dem insbesondere Akteure wie Kommunen, Stadtwerke sowie Bürger ihren Beitrag leisten. Diese Vielfalt muss erhalten bleiben. Denn sie ist für alle Beteiligten von Vorteil. Die Bürger bekommen – ganz pragmatisch – die Möglichkeit, Geld in solche Projekte zu investieren. Sie bekommen aber auch die Möglichkeit, ein Teil des Großprojektes Energiewende zu werden. Für die Kommunen und deren Stadtwerke bedeutet die Zusammenarbeit mit den Bürgern nicht nur die Steigerung der Akzeptanz beim Bau von Erzeugungsanlagen. Sie können auf diese Weise auch die finanziellen Herausforderungen der Energiewende auf mehreren Schultern verteilen.
Jedes Jahr müssen 17 bis 19 Milliarden Euro in den Aufbau von Erzeugungsanlagen gesteckt werden, haben die Beamten im Bundesumweltministerium ausgerechnet. Dazu kommen noch Investitionen in Verteilnetze, um diese für die Energiewende fit zu machen. Der VKU setzt dafür 14 Milliarden Euro bis 2050 an. Die Autoren der Broschüre gehen zwar davon aus, dass technische Entwicklungen und der rasante Zubau in anderen Regionen der Welt die Preise sinken lassen. Doch selbst wenn das eintritt, können die Stadtwerke die Investitionen nicht allein stemmen.
Zusammen mit den Bürgern wird das möglich. Und die Zusammenarbeit zwischen kommunalen Akteuren und Bürgern wird umso wichtiger, je mehr Hürden die Bundesregierung aufstellt. „Die Novellierung des EEG und die Einführung von Ausschreibungsmodellen für die Förderung der erneuerbaren Energien ist für alle Akteure, allen voran die Bürger, mit neuen Herausforderungen verbunden“, betonen die Projektpartner. „So sind Ausschreibungen aufwendiger und mit einem höheren Risiko verbunden als die bisherige Einspeisevergütung.“ Sie verweisen auf die Bürgerwindparks, die häufig im Rahmen regionaler Kooperationen mit Stadtwerken entwickelt werden. Gerade solche regionalen Modelle ermöglichen einer großen Anzahl von Bürgern eine Teilhabe.
Die Broschüre erklärt genau, worauf die Stadtwerke achten müssen, wenn sie neue Geschäftsmodelle rund um die Energiewende entwickeln. Dazu gehören nicht nur die aktuellen Rahmenbedingungen des EEG. Auch der Verbraucherschutz und das Gemeindewirtschaftsrecht stellen Leitplanken für solche Bürgerbeteiligungen auf. Neben den Finanzierungsinstrumenten erklären die Autoren der Broschüre auch die rechtlichen Formen der Bürgerbeteiligung und geben Tipps für die Praxis. Zwischen den einzelnen Kapiteln beschreiben sie zahlreiche gelebte Kooperationen zwischen Stadtwerken und Bürgern, um zu zeigen, wie solche auch in der Praxis umgesetzt werden.
Kurz nachgefragt
„Diese Initiative erhöht die Akzeptanz“
Der Gewerbespeicherhersteller Tesvolt aus Wittenberg ist der Initiative Energieavantgarde Anhalt beigetreten. Herr Hannemann, was erwarten Sie von dem Reallabor in Ihrer Region?
Daniel Hannemann: Wir erwarten durch diese Initiative eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung zum Thema Energiespeicherung. Die Energieavantgarde Anhalt etabliert das Thema und zeigt gleichzeitig die Chancen und Möglichkeiten für eine Region mit weniger Emissionen.
Gibt es schon konkrete Projekte in der Region, bei denen Sie mitwirken?
Mit unserem Vereinsbeitritt wurden die Grundpfeiler für eine vielversprechende Zusammenarbeit geschaffen. Nun geht es darum zu eruieren, wie die Kooperation im Speziellen ausgestaltet werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheinen uns zwei Projekte besonders geeignet: Zum einen können wir uns als Experten für Speichertechnologie bei der Entwicklung eines regionalen Balancekreises mit unserem technischen Wissen und unserer langjährigen Erfahrung sehr gut einbringen. Hierbei erachten wir auch die Entwicklung von neuen Ansätzen zur Sektorkopplung in der Region Anhalt als äußerst spannend.
Was ist das zweite Projekt?
Zum anderen können wir uns eine enge Zusammenarbeit mit der Energieavantgarde zum Reformationsjubiläum 2017 in Wittenberg sehr gut vorstellen. Hier werden zurzeit noch konkrete Projektideen diskutiert.
Zum anderen können wir uns eine enge Zusammenarbeit mit der Energieavantgarde zum Reformationsjubiläum 2017 in Wittenberg sehr gut vorstellen. Hier werden zurzeit noch konkrete Projektideen diskutiert.
Was ist beim Anschluss eines Gewerbespeichers ans Stromnetz zu beachten?
Unsere Gewerbespeicher können an fast allen Erzeugungseinheiten und auch in Kombination am Niederspannungsnetz angeschlossen werden. Reaktionszeiten von bis 200 Millisekunden zeichnen das flexible System in Verbindung mit dem Sunny Island aus. Notstrom und Spitzenlastmanagement sind einfach in Kombination mit dem Eigenverbrauch umsetzbar. Die Speicher sind auch technisch für Netzdienstleistungen wie Regelleistung vorbereitet.
Wie lässt sich die Optimierung des Eigenverbrauchs zudem auch netzverträglich gestalten?
Ein netzdienlicher Einsatz von Batteriespeichern senkt im Gegensatz zu einem marktgetriebenen Einsatz die Kosten des Netzausbaus. Des Weiteren kann eine Vielzahl von zentralen und dezentralen Speichern das temporäre Überangebot an erneuerbarer Energie speichern und somit die Netze entlasten.
Die Energiewende weckt auch Interesse außerhalb von Deutschland. Sie haben gerade einen dezentralen Lithiumspeicher nach Ruanda verkauft. Was ist der Vorteil eines dezentralen Speichers, der aus vielen einzelnen Einheiten besteht?
Insgesamt 134 Lithiumspeicher liefert Tesvolt fertig montiert nach Ruanda. Die größte Herausforderung war es, ein dezentrales Speichernetz aufzubauen, das 44 Pumpen unabhängig voneinander mit Strom versorgt. Der Vorteil des dezentralen Systems ist: Fällt ein Speicher aus, laufen die anderen weiter. Ein komplexer Zentralspeicher kam also nicht infrage, denn würde er ausfallen, könnte eine landwirtschaftliche Fläche von mehr als 1.200 Hektar nicht weiter bewässert werden. Und das würde wiederum zu Ernteausfällen führen.
Das Gespräch führte Niels H. Petersen.
Daniel Hannemann
ist Geschäftsführer des Speicherherstellers Tesvolt mit Sitz in Wittenberg. Seit 2014 ist das Unternehmen am Markt tätig und fertigt Lithiumspeicher in verschiedenen Größen mit einer Kapazität von zehn bis 120 Kilowattstunden.