Areva hat zugegeben, gut 400 gefälschte oder geschlampte Dossiers in seinen Unterlagen zu haben. In den Strudel gerät auch der Kraftwerksbetreiber EDF. La Grande Nation Nucléaire hat einen neuen Skandal: Arevagate.
Fallout mitten in Europa
Areva teilte mit, dass man bis ins Jahr 1960 zurück die Unterlagen durchforsche. Jedes Dossier enthält eine exakte Beschreibung der Herstellung, von der chemischen Zusammensetzung des Stahls über jede thermische Behandlung bis zum Schmiedevorgang. Betroffen seien in mehr als der Hälfte der Fälle Bauteile für Atomreaktoren, der Rest entfalle auf Komponenten für konventionelle Kraftwerke. „Bei den nuklearen Teilen geht es um Druckbehälter, Pumpengehäuse, Pumpenringe und anderes“, bestätigte eine Sprecherin des Unternehmens.
Atomkraftwerke brauchen gewaltige, mehr als zehn Meter hohe Pumpen für den Primärkreislauf. Sie müssen unter allen Umständen funktionieren, weil der Reaktor andernfalls nicht mehr gekühlt werden kann. Auch radioaktiv verseuchtes Wasser könnte dann austreten – mitten in Europa.
Kleine, handliche Atomeier
Just in diesem Moment haben Beamte aus Brüssel vorgeschlagen, Milliarden aus der Energieforschung der EU umzuleiten, um kleine, handliche Atomreaktoren zu entwickeln – die vierte Generation dieser Technologie. Sie könnten – so die Satrapen der arg gebeutelten Konzerne – in zwei bis drei Jahrzehnten quasi in jeder Gemeinde entstehen, um Wärme und Strom zu erzeugen. Der alte Kohlemeier, romantische Rauchfahne auf den Ölschinken verblichener Jahrhunderte, kehrt als strahlende Kapsel, als kleines Atomei wieder. Anders ausgedrückt: Die nukleare Wollmilchsau soll Eier legen.
Herrlich, diese verrückte Welt
Ist diese Welt nicht ein herrlicher Ort, so herrlich verrückt, immer hart an der Grenze zur Schizophrenie? Eben erst musste Areva zugeben, dass es bei den Fälschungen und Schlampereien nicht um leicht austauschbare Ersatzteile geht, sondern um die wichtigsten Komponenten von Atomreaktoren. Und nun – man möchte meinen: leicht beschwingt – kommen die Brüsseler Beamten daher, damit diese riskante Technologie hunderte oder gar tausende Küken bekommt. Das große Eierlegen soll erst noch beginnen.
Im Kostüm des iPhone
Die vierte Generation der Atomkraft will in das Kostüm des iPhone schlüpfen. Ihre Befürworter suggerieren, dass Miniaturreaktoren kein Problem sind. Die fünfte Generation dürfte die nukleare Armbanduhr sein, ungefähr so: aTom Watch.
Dieselbe Strategie der Verharmlosung hatten die Bosse von Hitachi und General Electric verfolgt, als sie Ende der 90er Jahre die dritte Generation der Atommeiler vorstellten. Darin sollte „nur noch“ abgereichertes Uran U-238 zum Einsatz kommen, nicht mehr das hoch angereicherte, waffenfähige U-235.
The walking dead
Die Ruinen der zweiten Generation haben heute zweifelhaften Schauwert: Harrisburg, Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima, demnächst vielleicht ein GAU an der deutschen Grenze oder im tschechischen Temelin – was muss eigentlich noch passieren? Genau fünf Jahre nach den Explosionen in Japan und dreißig Jahre nach dem großen Sterben in der Ukraine kehrt die alte Idee wieder. Als wäre sie eine Schimäre. Als wäre sie ein unsterblicher Zombie – a walking dead.
Chaos in Flamanville
Was sie tatsächlich ist. Die Atomkraft ist technologisch und ökonomisch am Ende. Ein Beispiel gefällig? Beim neuen Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville an der französischen Kanalküste herrscht Chaos. Seine Fertigstellung – er sollte das Vorzeigestück der europäischen Nuklearindustrie werden – ist bereits seit Jahren überfällig. Im vergangenen Jahr war dort festgestellt worden, dass der Stahl von Boden und Dom des Druckbehälters fehlerhaft gemischt wurde. Der Druckbehälter, liebe Leute, ist der Kern jedes Reaktors und von essenzieller Bedeutung für seine Sicherheit, da er die Brennstäbe enthält.
Chaos auch in Olkiluoto
Ein solcher EPR soll auch im Atomkraftwerk von Olkiluoto aufgebaut werden, das an der finnischen Ostseeküste liegt. Dort laufen bereits zwei russische Reaktoren vom Tschernobyl-Typ (sic!). 2005 begannen Areva und Siemens damit, den neuen Druckwasserreaktor zu errichten. Ursprünglich auf drei Milliarden Euro veranschlagt, liegen die Kosten – geschätzt – mittlerweile bei neun Milliarden Euro. Der Reaktor kann – wenn überhaupt – erst 2018 ans Netz gehen. Geplant war 2011. Einen vierten Block haben die Investoren zwischenzeitlich abgesagt. Ende Gelände!
Areva ist angeschlagen
Der französische Technikriese Areva ist die letzte Bastion der Atomtechnologie in Europa. Siemens ist ausgestiegen, hat seine Nukleargeschäfte an die Franzosen durchgereicht – wie Vattenfall seine Braunkohlegruben an die Tschechen. Fakt ist, dass Areva nun auf der Kippe steht. Denn falls sich herausstellt, dass die „Anomalien“ in den Protokollen über Defekte hinwegtäuschen, müssten kritische Bauteile zurückgerufen werden und Areva Schadensersatz leisten. Ein Rückruf ist mit der Stilllegung des ganzen Kraftwerks verbunden.
Der Zeitpunkt für den Skandal ist denkbar ungünstig, denn Areva muss einen Verlust von zwei Milliarden Euro aus dem vergangenen Geschäftsjahr verkraften. Um das Unternehmen zu retten, bestand der Elysee-Palast darauf, dass die gesamten Reaktoraktivitäten vom staatlichen Versorger EDF übernommen werden. Der wehrte sich zwar dagegen, weil er zwei Milliarden Euro aus eigener Kasse zahlen muss, beugte sich letztlich aber dem Willen von Wirtschaftsminister Emmanuel Macron.
Feilschen um Hinkley Point
Deshalb geriet auch die EDF ins Schlingern. Mit der Atomkraft ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. So zögern die Bosse in Paris die Entscheidung über den Neubau des Atommeilers im englischen Hinkley Point weiter hinaus: Nach der Übernahme von Areva müsste EDF das Risiko von 17 Milliarden Euro voll auf die eigene Bilanz nehmen. Zwar kommen fast acht Milliarden Euro aus chinesischen Kassen, vom Staatskonzern China General Nuclear Power Group. Aber das macht die Sache nicht wirklich lukrativ.
Bereits zum dritten Mal wurde die Entscheidung vertagt. Obwohl die Briten fast 100 Milliarden Euro an Subventionen in Aussicht stellten und einen Stromabnahmepreis anboten, der doppelt so hoch wie der aktuelle Strompreis in Großbritannien ist. Sogar der ehemalige EU-Energiekommissar Günther Oettinger kritisierte diese unverblümten Subventionen als „sowjetisch“. Aus seinem Munde ein Schimpfwort, für das es keine Steigerung gibt.
Meiler versinken im Minus
Nichts scheint mehr zu funktionieren, um die Meiler rentabel zu machen. Im Gegenteil: Sie mutieren zu gigantischen Fehlinvestitionen. Mal unter uns: Rentabel waren die Reaktoren nie, stets wurden die Bilanzen durch Zuschüsse aus den Staatskassen frisiert. Letztlich war es das Geld des Steuerzahlers, das die Reaktoren zum Laufen brachte. Und es werden die Milliarden der Steuerzahler sein, die den Rückbau der Reaktoren und die Lagerung der ausgelutschten Brennstäbe finanzieren.
Deshalb läuft die Zeit der Großkraftwerke ab: Weil sie zu teuer sind, zu komplex, zu riskant. Weil es saubere Generatoren gibt, die man viel schneller und preiswerter bauen kann: Sonnenstrom und Windkraft machen den Atommeilern den Garaus. Da ist überhaupt kein Platz mehr für die gigantischen, kaum regelbaren Reaktoren. Da ist auch kein Platz für kleine Atomeier, denn das Problem der strahlenden Rückstände lösen auch sie nicht.
Das Ende des Gigantismus
Es ist überhaupt kein Platz mehr in dieser Welt für gigantische Maschinen, die gigantische Ressourcen verschlingen und gigantische Budgets fressen – beim Bau, im Betrieb, durch Störfälle und Katastrophen, durch fehlende Entsorgung. Und es ist kein Platz mehr für Beamte und Politiker, die nicht endlich einen Schlussstrich unter das gigantische, riskante Abenteuer der Atomtechnik ziehen. Wenn die Entscheidungsträger in den Regierungen und bei der Europäischen Kommission zum konsequenten Atomausstieg nicht fähig sind, werden sie dasselbe Schicksal erleiden wie die Eier, die sie legen: als ausrangierte Auslaufmodelle von gestern. Zu teuer und zu ineffektiv, um sie weiter auszuhalten.
Sind Bürokraten lernfähig?
Vielleicht ja doch. Zumindest Carlos Moedas, bei der Europäischen Kommission in Brüssel für die Forschungsbudgets zuständig, hält die Atomkraft für überholt. „Die Zukunft liegt nicht in der Kernenergie“, sagte der portugiesische Kommissar in einem Gespräch mit der Neuen Rhein Zeitung Anfang dieser Woche. Er kündigte an, dass die EU die Entwicklung neuer Atomreaktoren nicht mehr fördern will. Eine Renaissance der Atommeiler werde es nicht geben, betonte Moedas.
Zur Atomkatastrophe in Fukushima und zur Energiewende hat der Autor einen packenden Roman geschrieben: „Zen Solar“, soeben erschienen im Berliner Cortex Unit Verlag. Leseproben und Details finden Sie hier.