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Dirigent der grünen wende

M ehr Idylle geht nicht: Wer Jürgen Bortloff besucht, braucht ein gutes Navi oder den siebten Sinn eines eingefleischten Pfadfinders. Der Mann wohnt in Alpirsbach-Römlinsdorf, eine 360-Seelen-Gemeinde mitten im Schwarzwald. Dort, wo jede Wegbiegung den Blick auf eine weitere Postkartenansicht freigibt, wo die Straßen für zwei Autos fast zu schmal sind, vollzieht der quirlige Endvierziger seine eigene kleine Energiewende. Und nimmt viele Menschen auf diesem Weg mit.

Um genau zu sein: Es ist längst mehr als nur ein kleines Unterfangen. Und den Dimensionen einer „One-Man-Show“ sind die Projekte des Jürgen Bortloff schon lange entwachsen. Denn was vor 15 Jahren mit einer der ersten Windkraftanlagen der Region begann und zwei Jahre später mit der damals größten Photovoltaikanlage im Nordschwarzwald seine Fortsetzung fand, hat inzwischen viele Bürger der Region inspiriert. Mehrere Bürgerbeteiligungsmodelle, mit Photovoltaikmodulen gepflasterte Dächer und zwei Windräder auf den Wiesen nahe Römlinsdorf zeugen von der sprichwörtlichen Energie, die der gebürtige Kölner in seiner Wahlheimat an den Tag legt.

Das zweite Windrad ist übrigens erst vor Kurzem, im Herbst 2013, in Betrieb gegangen. Mit einer Nabenhöhe von 113,5 Metern und einem Rotordurchmesser von 71 Metern hat die Anlage eine Nennleistung von 2.310 Kilowatt. Investitionsvolumen: 2,7 Millionen Euro, eingebracht von 38 Bürgern aus Römlinsdorf und der nahen Umgebung. „Damit haben wir ziemlich genau neun Mal so viel investiert wie in unsere erste Windkraftanlage von 1998“, rechnet Bortloff vor. „Der Ertrag, den wir damit erreichen, liegt um den Faktor 14 höher.“

Eine Leidenschaft für grüne Energie

Eigentlich ist Jürgen Bortloff von Beruf Musikpädagoge. In seinem Hauptberuf arbeitet er als Lehrer für Tasteninstrumente, dirigiert drei Akkordeon-Orchester und leitet gelegentlich einen Chor. Sein Engagement für grüne Energie? „Das ist meine Leidenschaft“, erklärt er lächelnd. „Ich hatte mich schon als Schüler im Leistungskurs für Biologie für die Zusammenhänge zwischen Waldsterben und Klimaschutz interessiert. Außerdem besitzt meine elterliche Familie im Hochsauerland land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen. Da habe ich immer mitgearbeitet. Dadurch hat sich eine natürliche Nähe zu diesen Themen einfach ergeben.“

Anfang der 90er-Jahre rief ihn sein Vater an und berichtete von der Einweihung einer Windkraftanlage in der Nähe von Schmallenberg im Hochsauerland. „Das war eine 100-Kilowatt-Anlage mittlerer Größe, mit 25 Metern Masthöhe und 20 Metern Rotordurchmesser. Mein Vater war beeindruckt und wollte, dass ich die Möglichkeiten auslote, ein solches Windrad bei uns aufzustellen.“

Damals begannen die Kommunen, erste Flächen für die Nutzung von Windkraft auszuweisen. Allerdings: Die Fläche der Bortloffs war nicht dabei. Die Stadträte von Schmallenberg hatten Bedenken, das Windrad könne zu einer Lärmbelästigung für die nicht allzu weit entfernt wohnenden Mitbürger führen. Doch so schnell mochte sich Jürgen Bortloff dem Amtsschimmel nicht beugen. „Wir ließen ein Schallgutachten erstellen und hatten sogar schon die Einspeisegenehmigung vom zuständigen Energieversorger in der Tasche.“ Doch ohne Erfolg: Die Bauvoranfrage wurde negativ beschieden, das geplante Windrad steht bis heute nicht im Hochsauerland.

Hürdenlauf zum ersten Windrad

Wohl aber im Schwarzwald. Denn Jürgen Bortloff zog mit seiner Frau in deren Heimat, nach Römlinsdorf. Das war 1993, und der junge Musiklehrer dachte sich: „Probieren wir es einfach hier.“ Rechtliche Basis bot Paragraf 35 des Bundesbaugesetzes. Er lässt Bauvorhaben zu, wenn sie „der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- oder Wasserenergie“ dienen. Unter der Einschränkung allerdings, dass dem Vorhaben „öffentliche Belange nicht entgegenstehen“.

Der zuständige Landkreis Freudenstadt genehmigte das geplante Windrad denn auch, nicht jedoch die Ortschaftsräte von Römlinsdorf. Sie votierten einstimmig dagegen, weil dem Vorhaben nach ihrer Einschätzung sehr wohl öffentliche Belange entgegenstünden. Dem wiederum folgte der Stadtrat von Alpirsbach nicht und gab – letztlich ausschlaggebend – grünes Licht. Jürgen Bortloff hatte sich im Dorf nicht unbedingt beliebt gemacht, aber er konnte seine Windkraftanlage bauen: 50 Meter Nabenhöhe, 30 Meter Rotordurchmesser, 300 Kilowatt Nennleistung. Entfernung zur nächsten Stromtrasse: 60 Meter. Alles schien geregelt.

Doch die nächste Hürde wartete bereits: Die EnBW als zuständiger Energieversorger stellte sich quer. „Ich sollte den Strom aus dem Windrad nicht in die Freileitung vor Ort einspeisen, sondern eine 1,6 Kilometer lange Leitung ins Ortsinnere legen lassen. Das wäre das Aus für das Projekt gewesen, weil es sich nicht mehr gerechnet hätte.“

Von der Windkraft zur Sonne

Also rief Bortloff beim Wirtschaftsministerium in Stuttgart an – und stieß auf offene Ohren. Innerhalb von fünf Tagen lenkte die EnBW ein und erklärte sich mit der Einspeisung in die Freileitung einverstanden. Einzige Voraussetzung: Jürgen Bortloff musste die Kosten für die Trafo-Übergabestation übernehmen. Im Oktober 1998 ging das Windrad ans Netz. Don Quichote hatte seine eigene Windmühle. Und freut sich jetzt, nach 15 Jahren, doppelt, denn „sie hat sich inzwischen amortisiert.“

Im Herbst 1999 lernte der Windkraftpionier auf einer Umweltmesse in Böblingen einen Solarpionier der ersten Stunde kennen: Artur Deger. Deger ist der Erfinder der sensorgesteuerten Nachführung von Photovoltaikanlagen. Er ist Gründer und Geschäftsführer von Deger Energie in Horb. Keine 20 Kilometer von Bortloff weg.

Jürgen Bortloff erinnert sich: „Ein Jahr zuvor hatte Walter Witzel, der energiepolitische Sprecher der baden-württembergischen Grünen, im Bundestagswahlkampf erklärt, man werde, sofern die Grünen nach der Wahl mitregieren würden, nicht nur Wind-, sondern auch Solarenergie fördern.“ Die plakativ-politische Aussage damals übrigens war: eine Mark für jede Kilowattstunde. Heute sind es für die Investoren der ersten Stunde 50,62 Cent, was dem exakten Umrechnungskurs von der D-Mark zum Euro entspricht. Eine Einspeisevergütung, von der heutige Investoren nur träumen können.

Jedenfalls konnten die Grünen tatsächlich mitregieren: Seit Oktober 1998 bestimmte die erste rot-grüne Koalition der Bundesrepublik unter Gerhard Schröder das politische Geschehen in Deutschland. Im April 2000 trat das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Kraft, und im Oktober desselben Jahres nahm Jürgen Bortloff mit Unterstützung von Artur Deger die damals größte Photovoltaikanlage im Nordschwarzwald in Betrieb: starr installierte Solarmodule auf dem Dach des Wohnhauses der Schwiegereltern. „Das Dach ist ziemlich groß. Wir konnten 21,46 Kilowatt installieren.“

Mehr Ertrag durch Nachführung

Jetzt war Jürgen Bortloff endgültig entflammt für die Idee, Strom direkt aus der Sonne zu gewinnen. Von Artur Deger hatte er gelernt, dass sich der Ertrag der Solarmodule signifikant steigern ließ, wenn man die Modulflächen mittels sensorgesteuerter Nachführung immer an der hellsten Stelle am Himmel ausrichtete. „Das hat mich total begeistert.“ Also war das nächste Projekt eine Deger-Nachführanlage auf dem Grundstück der Schwiegereltern, die dem Treiben ihres tatendurstigen Schwiegersohns wohlwollend gegenüberstanden.

Im Juli 2001 ging der Tracker mit 14 Quadratmetern Modulfläche und 1,44 Kilowatt Leistung in Betrieb. Seither hat Jürgen Bortloff mit vielen Bürgern zusammen im Umkreis von 50 Kilometern mehrere Megawatt installiert – mit nachgeführten Anlagen, starr installierten Modulen und mit Windkraft. So ist er als Gründungskommanditist am Bürgerwindrad auf dem Brandenkopf beteiligt. Der auf 945 Meter Meereshöhe gelegene Gipfel ist mit einer mittleren Jahreswindgeschwindigkeit von 5,8 Metern pro Sekunde der zweitbeste Windkraftstandort in Baden-Württemberg. Dort steht seit 2001, weithin sichtbar, das Bürgerwindrad mit 58 Metern Rotordurchmesser und einem Megawatt Nennleistung. Rund 23 Millionen Kilowattstunden Windstrom sind in den vergangenen zwölf Jahren vom Brandenkopf ins Netz geflossen.

Ein Modell macht Schule

Die Idee grüner Bürgerbeteiligungsmodelle im Schwarzwald machte Schule. Im Jahr 2002 ging auf Bortloffs Initiative in Baiersbronn eine Photovoltaikanlage ans Netz, an der Bürger und Gemeinde beteiligt sind. „Seither realisiere ich zwei bis drei Projekte im Jahr – zu mehr habe ich einfach keine Zeit“, sagt Jürgen Bortloff fast entschuldigend.

Kein Wunder, treibt der nebenberufliche Energiewender doch eine Menge Aufwand: Er sucht geeignete Standorte, plant die Windräder oder Solarparks, kümmert sich um Genehmigungen, überzeugt Bürger, Gemeinden und Geldgeber. Er bringt alle an einen Tisch, steuert den Einsatz der Zulieferer und Installateure. Wenn die Anlagen laufen, kümmert er sich um alles Weitere, rechnet mit Energieversorgern und Anlegern ab und sorgt für den reibungslosen Betrieb.

Allein vier Solarparks mit Nachführtechnologie sind mittlerweile im Landkreis in Betrieb, allesamt als Bürgerbeteiligungsmodelle, meist in Form von Energiegenossenschaften angelegt. Dazu kommen sechs große Aufdachanlagen mit starr installierten Modulflächen – auch sie jeweils als Gemeinschaftsprojekte mehrerer Privatpersonen. „Wir kommen allein mit Photovoltaik auf mehr als 1,2 Megawatt installierter Nennleistung“, rechnet Bortloff vor. Weitere 2,6 Megawatt bringen die zwei Windräder bei Römlinsdorf. „Unsere Renditen liegen derzeit im Schnitt bei fünf Prozent Nettoverzinsung im Jahr. Das ist beim heutigen Zinsniveau ein ordentlicher Wert.“

Große Bereitschaft

Inzwischen sei ein gesellschaftlicher Konsens erreicht, der die Suche nach Investoren sehr einfach macht. „Die Bereitschaft bei Bürgern, einen Teil ihres Anlagevermögens in grüne Energie zu stecken, ist sehr hoch. Auch bei vielen Kommunen rennen wir offene Türen ein, und sogar die Banken sind heute willens, sich mit ins Boot zu setzen. Kurz: Die Bereitschaft aller Beteiligten ist so groß, dass wir problemlos noch mehr Projekte realisieren könnten, als wir derzeit in Planung haben.“

Allerdings: Das Ende von Geschäftsmodellen, die auf den Einspeisevergütungen basieren, rückt näher. Und natürlich macht sich Jürgen Bortloff längst Gedanken, welche Finanzierungsmodelle künftige Projekte tragen könnten. „Warum nicht selbst Energieversorger oder Energiehändler werden?“ Oder ab 2020, wenn die hohen Einspeisevergütungen wegzufallen beginnen, Elektrotankstellen betreiben. „Für sechs Cent, so der aktuelle Einspeisepreis ohne EEG-Umlage, kann keiner tanken.“ Vorsorglich testet er in seinem Heizungskeller die ersten Speicher, ein Akkusystem von Nedap.

Übrigens: Die Genehmigung für das zweite Windrad von Jürgen Bortloff wurde vom Römlinsdorfer Ortschaftsrat einstimmig erteilt. Die Energiewende ist angekommen.

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