Bei genauerem Hinsehen verbergen sich hinter dem Strommarktgesetz und der in dessen Windschatten auf den Weg gebrachten Kapazitätsreserveverordnung eine Reihe von Maßnahmen zum Umbau des deutschen Energiemarktes, die Zweifel hinsichtlich ihrer ökonomischen Konsistenz wecken und mit erheblichen Risiken für die Verbraucher verbunden sind. Die Kritik zielt auf die zentralen Weichenstellungen des Gesetzesentwurfs: Einerseits die vermeintliche Stärkung der freien Preisbildung auf dem künftigen Strommarkt 2.0 und andererseits die Schaffung einer Kapazitätsreserve. Nach Veröffentlichung des Referentenentwurfs im September/Oktober hat zuletzt die Monopolkommission die Risiken dieser beiden Kernmaßnahmen benannt.
Derzeit finden in vielen Ländern Reformen im Bereich der Stromgroßhandelsmärkte statt. Dass sich die dabei eingeschlagenen Wege stark unterscheiden, ist ein Hinweis auf die Komplexität der Aufgabe. Erklärtes Ziel ist stets, die sensiblen Märkte marktwirtschaftlich auszugestalten ohne sie einer Gefahr für die Versorgungssicherheit auszusetzen. Viel diskutiert wurde insbesondere ein neues Markdesign auf Basis von Kapazitätsmärkten, für das sich z.B. Frankreich, das Vereinigte Königreich, Italien und mehrere Staaten der USA entschieden haben. Wie die Monopolkommission in ihrem Sondergutachten deutlich gemacht hat, sind mit einer Einführung von Kapazitätsmärkten allerdings Risiken verbunden. Es mag daher als vertretbar angesehen werden, dass die Bundesregierung einen anderen Weg gewählt hat und darauf setzt, das bestehende Energiemarktdesign nicht zu reformieren, sondern zu modernisieren. Die effiziente Verfolgung dieses Weges ist jedoch mit dem jüngsten Entwurf des Strommarktgesetzes nicht geglückt.
Die Schwächen des Strommarktgesetzes werden deutlich, wenn man den Blick auf das Kernproblem der Diskussion um Versorgungssicherheit richtet. Viele Ökonomen sehen eine große Gefahr darin, dass die Preise am Energiemarkt nicht das notwendige Niveau erreichen, um Anreize für ausreichende Investitionen in Kapazität zu geben. Das zugrunde liegende Marktversagen ist unter anderem auf die speziellen Bedingungen zurückzuführen, mit denen sich Nachfrager auf den Strommärkten konfrontiert sehen: Gelingt es den Stromnachfragern bei hohen Preisen ihre Nachfrage schnell zu reduzieren, dann schafft der im Fall einer Knappheit steigende Marktpreis stets einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Die Stromversorgung ist dann zuverlässig; niemand wird unfreiwillig von der Stromversorgung abgeschnitten. Reagieren die Nachfrager im Moment eines Engpasses jedoch auf steigende Preise nicht ausreichend mit einem Lastabwurf, dann kann der Marktpreis als Steuerungsinstrument keinen Ausgleich von Angebot und Nachfrage herbeiführen. Es können unfreiwillige Abschaltungen, sogenannten Blackouts, auftreten. Diese sind nicht nur aus Kostengründen zu vermeiden, sondern tangieren die Möglichkeit, in diesen Momenten einen Marktpreis zu finden. Ohne Preisspitzen in Engpassphasen fehlen aber die effektiven Investitionsanreize in Kraftwerkskapazität. Es kommt zu einem Kapazitätsproblem.
Konsequent ist daher, dass die Bundesregierung bereits im Weißbuch angekündigt hat, durch verschiedene Maßnahmen die Flexibilität der Nachfrage zu stärken. Damit stärkt man faktisch den Preis als Knappheitsindikator und Investitionssignal und vermeidet unfreiwillige Abschaltungen. Unternehmen werden allerdings nur in Erzeugungskapazität investieren, wenn sie davon überzeugt sind, dass sich in Knappheitsmomenten hohe Preise auch einstellen dürfen. Bezüglich der Zulässigkeit hoher Preise hat jedoch das Bundeskartellamt vor einigen Jahren Zweifel gestreut, als die Bundesbehörde in ihrer Sektoruntersuchung zum Energiegroßhandel Spotmarktpreise oberhalb der direkt zurechnbaren Kosten mit einem Missbrauch von Marktmacht in Zusammenhang gebracht hat. Tatsächlich ist Marktmacht im Stromgroßhandel ein ernst zu nehmendes ökonomisches Problem. Große Versorger können vor allem bei knappen Kapazitäten ihre Systemrelevanz nutzen, um Preise aufzurufen, die weit über denen liegen, die mit einem effizienten Wettbewerbsmarkt vereinbar sind. Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass eine perfekte Kontrolle zum Schutz vor solchen überhöhten Preisen nicht umsetzbar ist, wenn man gleichzeitig in bestimmten Situationen knappheitsbedingt hohe Preise zulassen möchte.
Einerseits setzt die Bundesregierung im Strommarktgesetz auf die freie Preisbildung. Andererseits besteht das Problem, eine Vereinbarkeit der hohen Preise mit dem Kartellrecht herzustellen. Dieses Problem hat man mit dem Strommarktgesetz nun auf das Bundeskartellamt ausgelagert. Dieses soll in Leitlinien beschreiben, wie es das Kontrollproblem angehen will. Gleichzeitig soll dem Kartellamt durch Erweiterung des § 53 GWB ein neuer Auftrag erteilt werden, mindestens alle zwei Jahre einen weiteren Bericht zum Wettbewerb im Stromgroßhandel zu erstellen. Darin soll das Amt prüfen, welche Versorger marktbeherrschend sind; eine in diesem Rahmen festgestellte Marktbeherrschung soll Voraussetzung dafür sein, dass es bei dem Verdacht auf missbräuchlich überhöhte Preise tätig werden kann. Die Bundesregierung verspricht sich so Rechtssicherheit für die Versorger.
Tatsächlich ist der Ansatz, das Problem durch das Konzept der Marktbeherrschung lösen zu wollen, wenig Erfolg versprechend, wenn nicht schädlich. Eine der wesentlichen ökonomischen Eigenschaften der Stromgroßhandelsmärkte liegt darin, dass sich Angebot und Nachfrage stündlich erheblich ändern können; folglich lässt sich auch die Marktstellung der Akteure nicht beständig definieren, sondern hängt von der gerade gehandelten Lieferstunde ab. Verfolgt das Bundeskartellamt in dem geplanten Marktmachtbericht seinen früheren Ansatz weiter, wird es die Marktbeherrschung mit einer bestimmten Menge an Stunden, in denen Anbieter systemrelevant sein müssen, verknüpfen. Dann würde sich allerdings ein erhebliches Schadenspotenzial ergeben. So könnten Anbieter, die nach der Definition des Amtes nicht marktbeherrschend sind, ihre kurzfristige Systemrelevanz durch eine massive Überhöhung der Preise ausnutzen. Ist die Kapazität eines Anbieters z.B. in 219 Jahresstunden systemrelevant (dies entspricht lediglich 2,5 % aller Stunden) und gelingt es dem Anbieter in diesen Stunden, den Marktpreis von einem derzeitigen Spitzenlastpreis von 100 Euro auf das technische Börsenlimit von 3000 Euro zu treiben, so entspricht dies bei einer Lastnachfrage von 70 GW einem durch Marktmacht erhöhten Umsatz von etwa 44 Mrd Euro. Diese Situation dürfte auch politisch nur schwer durchzuhalten sein. Die damit verbundene Unsicherheit der Akteure wird die Funktion der Preise als Signalgeber für Investitionsentscheidungen jedoch weiter schwächen.
Grundsätzlich suggeriert der von der Bundesregierung verfolgte Ansatz, dass man eigentlich auf den 'freien' Markt vertrauen möchte – sich jedoch über die Konsequenzen dieser Entscheidung dann doch nicht so sicher ist. Deshalb soll der Ansatz eines weiterentwickelten Strommarktes mit einer Kapazitätsreserve verbunden werden. Eine solche Reserve birgt weitere Risiken für die Funktionsfähigkeit des Strommarkts. So könnte eine Reserve die Versorger dazu animieren, Knappheitssituationen hervorzurufen, da diese nicht mehr mit dem Risiko eines Blackouts verbunden sind. Stattdessen steigt gemäß den Auslöseregeln in § 26 der Kapazitätsreserveverordnung der Marktpreis auf das technische Börsenlimit, wenn die Reserve eingesetzt wird, und dadurch der Blackout vermieden wird. Die Monopolkommission hat diese und weitere Probleme einer Reserve analysiert und empfohlen, die Reserve nicht als dauerhaftes Instrument sondern als reine Absicherung zu konzipieren. Sie sollte nur mit geringer Kapazität ausgestattet werden, eine Befristung für 10 Jahre erhalten und bei regelmäßigem Einsatz vorzeitig abgelöst werden.
Es ist zu erwarten, dass sich die hohen Risiken im Strommarkt niederschlagen werden in einer geringen Bereitschaft der Unternehmen, in Kraftwerkskapazität zu investieren. Neben diesem fundamentalen Funktionsproblem des Marktes ist es fast nebensächlich, aber dennoch bedenklich, dass die Ausgestaltung der Reserve offensichtlich nicht nur nach Effizienzkriterien erfolgt. Derzeit ist geplant, Braunkohlekraftwerke in die Reserve einzustellen mit der Absicht, diese Kraftwerke dem Markt zu entziehen. Diese Maßnahme wird zu keiner CO2 Reduktion in Europa führen, da die Menge an CO2 Zertifikaten gedeckelt ist. Ob Kohlekraftwerke mit Braunkohleverfeuerung eine sinnvolle Technologie für eine Reserve darstellen, ist unwahrscheinlich.
Eine Umsetzung des Regierungsentwurfes zum Strommarktgesetz würde den Strommarkt neuen Risiken aussetzen. Die Monopolkommission hat in ihrem aktuellen Sondergutachten diese Gefahren analysiert und Vorschläge zu ihrer Vermeidung gemacht. Eine Nachsteuerung des Bundestages wäre zu wünschen, um dem Ziel eines nachhaltigen und robusten Strommarktdesigns näher zu kommen.
Achim Wambach ist Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik der Universität zu Köln, seit 2006 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums (von 2012-2015 dessen Vorsitzender) und seit 2014 Mitglied der Monopolkommission.
Marc Bataille ist Senior Economist im wissenschaftlichen Stab der Monopolkommission, spezialisiert auf Wettbewerbsprobleme in Versorgungsbranchen und seit 2010 verantwortlich für den Energiesektor.