Das Rheinland wird zum Wendland: So könnte man die vergangenen Tage zusammenfassen. Der Streit um die Braunkohle, der fundamentale Kampf um die Lebensgrundlagen unserer Zivilisation, ist in eine neue Phase getreten.
Als die Richter in Münster ihr Urteil fällten, das die Rodungen vorerst auf Eis legt, haben sie den Schutz von Fledermaus und Flur als hohes Gut definiert. Diesen Schutz einzuschränken, sei nur möglich, wenn die Versorgungssicherheit von NRW oder der Bundesrepublik gefährdet sei. Das jedoch konnten RWE und die zuständige Regierungsbehörde in Arnsberg nicht ausreichend belegen.
Eine unhaltbare Lüge
Das allein ist eine Zäsur, nicht nur in der Rechtsprechung. Denn die Energiekonzerne gründen ihr ganzes Geschäftsmodell auf der Mär von der Versorgungssicherheit: Wenn wir keine AKW bauen, geht bald das Licht aus. Wenn wir die AKW abschalten, geht das Licht aus. Wenn wir keine Kohlekraftwerke haben, keine Tagebaue, geht auch das Licht aus. Und wenn wir die neuen Stromtrassen nicht möglichst schnell bauen – möglichst vorbei am demokratischen Umweltrecht oder Planungsrecht – dann geht auch das Licht aus.
Doch dieses Argument steht nun juristisch auf der Kippe. Das OVG Münster hat nicht nur die Rodungen ausgesetzt, um Zeit für eine sachliche Prüfung der komplexen Rechtslage zu gewinnen. Es hat die falschen Anfangsvoraussetzungen der Klage von RWE in die Historie verwiesen.
Das Licht will nicht ausgehen
Dass die Versorgung mit elektrischem Strom bundesweit – oder auch nur im Rheingebiet – allein von der Vernichtung dieses Forstes abhängt, ist faktisch unbeweisbar. Weil es eine Lüge war, ist und immer sein wird.
Denn das Licht, irgendwie will es nicht ausgehen. Als die ersten AKW vom Netz gingen, flackerte kein Lämpchen, nirgends. Die Flutung der Tagebaue in Sachsen und in der Lausitz ging völlig an der Stromwirtschaft vorbei, wieder gab es keine Engpässe.
Was in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts galt, ist offenbar überholt. Heute brauchen wir diese Kraftwerke nicht mehr, um dieses Land mit Strom zu versorgen. Im Gegenteil: Die AKW und die Kohlemeiler gefährden den Fortbestand dieser Zivilisation. Will man wirklich Versorgungssicherheit erreichen, muss man diese Megamaschinen abschalten. So wird ein Schuh draus.
Die Menschen haben die Nase voll
Und noch etwas: Die Richter haben Dampf aus dem Kessel genommen. Weil die Rodungen nun – vorerst – aufgehoben sind, wird es demnächst keine Schlachten im Forst geben. Bislang war der Protest friedlich verlaufen. Und deshalb waren die Sympathien klar verteilt.
Deshalb haben die Fernsehbilder gewirkt: Einer aktuellen Studie von Greenpeace Energy zufolge wollen ein Drittel der Stromkunden zu Ökostrom wechseln. Weil sie die geballte Arroganz des Energiekonzerns RWE und der zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen unerträglich finden. Sie haben die Nase voll von den Machenschaften der Konzerne und des Staats, von der unsäglichen Seilschaft zwischen Kommerz und Politik.
Politiker haben versagt
Denn eigentlich wäre es die Aufgabe der Politik gewesen, die Kettensägen zum Schweigen zu bringen. Dass nun eine Atempause herrscht, dass es nun keine Eskalation der Proteste im Hambacher Forst gibt, das haben wir einem klugen Gericht zu verdanken. Das geht nicht auf die Kappe des Herrn Laschet (CDU, Ministerpräsident von NRW) oder der Frau Merkel (CDU, Bundeskanzlerin).
Ohne weiteres hätten sie ein Moratorium der Rodungen erwirken können, vor allem mit Blick auf die Kohlekommission. Mit Blick auf den sozialen Frieden. Doch es ist nichts passiert, gar nichts, und das an sich ist ein Skandal. Nicht einmal der Unfalltod eines jungen Mannes während der Räumungen brachte die politische Kaste dazu, auch nur einen Finger zu rühren.
Das Ende eines Geschäftsmodells
Der Urteilspruch aus Münster ließ die Aktie von RWE am selben Tag um sieben Prozent einbrechen. Der Konzern selbst meldete, dass ihm bis Ende 2020 jedes Jahr mehrere Millionen Euro Verluste entstehen, weil er nun um den Forst herum baggern müsse. Man kann davon ausgehen, dass das eine ebenso dreiste Lüge ist, wie das Märchen von der Versorgungssicherheit.
Viel wichtiger jedoch: Wenn RWE die politische – und juristische – Unterstützung verliert, schmilzt sein Geschäftsmodell wie Schnee in der Sonne. Die Börse hat ja nicht abgestraft, dass einer der Riesenbagger kaputt ist, oder es einen Erdrutsch im Tagebau gegeben hätte, oder der Weltmarktpreis für Kohle gefallen ist. Nein, die Spekulanten haben abgestraft, dass der politische Rückhalt für die Braunkohle schwindet. Man kann es auch so sagen: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Denn ökonomische Substanz, damit der Börsenwert einmal aus eigener Kraft wieder auf die Beine käme, hat RWE offenbar nicht mehr. Soll heißen: Die Kohle bietet kein Geschäftsmodell mehr. Ende Gelände!
Mehr Arbeit für die Regionen
Der gesellschaftliche Rückhalt für die Braunkohle ist ohnehin geschwunden. Das beweist die oben erwähnte Greenpeace-Studie. Das beweisen rund 50.000 Menschen, die am Tag nach der Urteilsverkündung im Hambacher Forst demonstrierten: Für den Ausstieg aus den Kraftwerken und Tagebauen, die grüne Auen in gigantische Mondkrater verwandeln. Die Seen und Flüsse versauern und die Welt zum Treibhaus machen.
Sie fordern die schnelle Abschaltung der alten RWE-Kohlemeiler am Rhein und den zügigen Ausstieg aus dieser Technologie, die ins 19. Jahrhundert gehört. Und sie fordern vor allem den bedingungslosen Ausbau der erneuerbaren Energien.
Solarparks im Tagebau
Denn nur Windkraft, Sonnenstrom und Ausgleichskraftwerke mit Wasserstoff werden den früheren Bergbauregionen an Rhein, Spree und Mulde eine Zukunft geben. Nur dann wird es gelingen, neue Arbeit in diese Regionen zu bringen. Mehr Potenzial haben die irdischen Mondkrater nicht: Dort ist auf lange Sicht weder Landwirtschaft möglich, noch sind diese Regionen in irgendeiner Weise touristisch interessant.
Wer wirklich will, dass die früheren Braunkohlereviere eine neue Chance bekommen, der muss den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren, muss die gewaltigen Flächen der Tagebaue für riesige Sonnenkraftwerke freigeben. Das scheinbar geringe Flächenpotenzial der toten Tagebaue könnte sich als mächtiger Schatz erweisen. Als neuer Motor der regionalen Wirtschaft.
Leuchttürme einer neuen Energiewelt
So könnten die alten Energiereviere die Leuchttürme einer neuen Energiewelt werden: Die jahrzehntelangen Erfahrungen in der Stromwirtschaft und die vorhandenen Stromtrassen der früheren Kohlekraftwerke würden sinnvoll genutzt. Darin liegt alle Hoffnung für die Kumpel, für die Ingenieure, sogar für einen Konzern wie RWE.
Denn der Strukturwandel hält viele Lösungen bereit. Er öffnet den Weg zu mehr Arbeit, mehr Wohlstand, mehr Frieden – ohne mehr Emissionen, ohne größere Gruben, mehr Gestank und Lärm. Der Abraumbagger weicht dem Solargenerator. Der Hambacher Forst bleibt stehen. Und der alte Gruß der Bergleute: Glück auf! Möge der Berg neue Erzgänge auftun! wird durch den neuen Morgengruß ersetzt: Glück auf! Und wieder steigt die Sonne!