Früher war sicher nicht alles besser, aber der Betrieb eines Stromnetzes war allemal weniger kompliziert. Die Energie floss aus Großkraftwerken zu Verbrauchern, deren Profil weitgehend berechenbar war. Die Übertragungsnetze der höheren Spannungslagen transportierten den Strom über die weiten Strecken. Bis zu den Verteilnetzen wurde die Spannung stufenweise abgesenkt, bis zum Hausanschluss für dreiphasigen Drehstrom mit 400 Volt Spaltung.
Heute speisen Millionen Solaranlagen ihren Strom in die Verteilnetze. Im Gegenzug erzeugen Elektroautos und Wärmepumpen mitunter erhebliche Lastspitzen. Energiemanagementsysteme und Batteriespeicher in den Haushalten ermöglichen es, den Verbrauch zu verlagern.
Meist sind sie programmiert, den Verbrauchern eine möglichst hohe Autarkie zu ermöglichen. Gelegentlich reagieren sie auf Anreize im Strommarkt. In Zukunft werden sie Regelenergie liefern, um die Frequenz im übergeordneten Übertragungsnetz zu stabilisieren. Zu welcher Zeit wie viel Strom in welche Richtung fließt, lässt sich heute kaum noch mit standardisierten Profilen abschätzen.
Mehr Flexibilität ist sinnvoll
Mehr Flexibilität im Netz ist für die Energiewende durchaus nützlich, wie viele Studien zeigen. Schließlich sollen Stromerzeugung und -verbrauch zeitlich so gut wie möglich passen. Doch für die unteren Netzebenen der Verteilnetze bedeuten die immer stärker schwankenden und schwieriger berechenbaren Lastflüsse eine Herausforderung.
Denn dafür sind sie nicht gewappnet. Die Automatisierung in der mittleren und Niederspannung ist weitgehend auf Pilotprojekte beschränkt, konstatiert die von der Energietechnischen Gesellschaft des Verbands deutscher Elektrotechnik (VDE ETG) eingesetzte Taskforce „Hochautomatisierung von Nieder- und Mittelspannungsnetzen“.
Der unbekannte Ortsnetztrafo
Sie hat eine gleichnamige Studie herausgegeben. Fazit: Während die Betriebszustände in den übergeordneten Umspannwerken bereits seit Jahrzehnten gemessen werden, weiß man wenig darüber, was in den Ortsnetzstationen wirklich vor sich geht.
Das Wissen der lokalen Netzbetreiber basiert bisher vor allem auf Berechnungen statt auf Messwerten. Die Verteilnetze mit spezieller Software zu simulieren ist seit Langem etabliert. Eine solche Berechnungssoftware ist zum Beispiel Power Factory von der Firma Digsilent. Sie verrät, an welchen Stellen im Netz Engpässe zu erwarten sind, ob das Netz den Anschluss weiterer Erzeuger und Verbraucher verkraften kann oder ob der Ausbau nötig ist.
Aktiv gegen Engpässe
Wenn Engpässe drohen, sollen die Netzbetreiber künftig vermehrt aktiv reagieren, heißt es in dem VDE-Papier. Im Verteilnetz sind die Möglichkeiten dafür allerdings überschaubar. Einige Netzbetreiber setzen auf regelbare Ortsnetztrafos, um die Spannung zu steuern. Diese lassen sich in der Software Power Factory ebenfalls abbilden.
Auch die sogenannte Vermaschung von Netzen – mehr Verbindungen zwischen den verschiedenen Netzsträngen – erlaubt Spielräume für den Energiefluss. Sie wird aber im Betrieb in der Regel nicht gezielt angesteuert, moniert die VDE-Studie.
Flexibilität besser integrieren
Aktiver Netzbetrieb heißt: Steuerbare Erzeuger und Verbraucher müssen auf Anforderung ihre eingespeiste oder entnommene Leistung anpassen oder zeitlich verschieben – also zum Beispiel Photovoltaikanlagen mit Speichern, Elektroautos oder Wärmepumpen.
Was das bewirken kann, hat der niederländische Netzbetreiber Alliander am Beispiel von Amsterdam untersucht. Dort soll bereits bis 2025 der gesamte Verkehr elektrisch werden. Ohne Lastmanagement hieße das, dass jede dritte Straße in der Stadt aufgegraben werden müsste, um das Stromnetz zu verstärken.
Verkehr in Amsterdam elektrifiziert
Stattdessen setzt das Unternehmen darauf, für einzelne Ladepunkte lediglich eine reduzierte Mindestleistung rund um die Uhr zu garantieren. Darüber hinaus sollen die Fahrzeuge nach einem vom Netzbetreiber vorgegebenen Profil immer dann laden dürfen, wenn zusätzliche Kapazität im Verteilnetz frei ist.
Der Schlüssel sind die Akkus der Fahrzeuge, die zusätzliche Flexibilität ins System bringen. „Wir können dreimal so viele Ladepunkte an derselben Leitung anschließen, ohne unser Netz zu überlasten oder Ladekomfort zu verlieren“, sagt Roy Crooijmans aus der Abteilung Netzbetrieb.
Dass eine aktive Steuerung keinen Komfortverlust bedeuten muss, zeigt sich in vielen Netzen bereits am Beispiel der Wärmepumpen. Thermische Speicher sorgen dafür, dass die Häuser auch dann warm bleiben, wenn der Netzbetreiber den Betrieb für einige Stunden unterbricht. Dieses Prinzip wurde seit Jahrzehnten genutzt, um Strom aus trägen Kohlekraftwerken und Atommeilern für Nachtspeicherheizungen zu nutzen.
Günstigere Tarife für Wärmestrom
Im Gegenzug erhalten die Kunden dafür bereits heute in vielen Netzgebieten einen günstigeren Tarif für den Wärmepumpenstrom. In Deutschland regelt der neue Paragraf 14a im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), wann und wie Netzbetreiber steuerbare Lasten reduzieren dürfen. Geschieht das häufiger, sind die Netzunternehmen jedoch verpflichtet, die Engstelle zu beseitigen und ihr Netz auszubauen.
Für das Echtzeitmonitoring benötigen klassische Netzberechnungen aufbereitete Messwerte, die bei Bedarf durch intelligente Algorithmen wie Zustandsschätzungen und Lastskalierungen ergänzt werden, um den aktuellen Netzzustand abzubilden. Auf dieser Basis können anschließend Maßnahmen bestimmt werden, um beispielsweise Engpässe im Verteilnetz zu ermitteln.
Unter anderem auf diese Anwendung zielt PS Insight mit seiner Systemlösung Gridcal. Das junge Unternehmen ist eine Ausgründung der Hochschule Düsseldorf und hatte sich eigentlich zum Ziel gesetzt, Programme für die Datenanalyse in Verteilnetzen zu entwickeln. „Es zeigte sich aber bald, dass es dafür zu wenige Daten aus den Ortsnetzen gab“, berichtet Philipp Huppertz. „Nachdem wir die Partner für die Hardware gefunden hatten, war der nächste Schritt dann die Frage nach dem Einbau.“
Datensicherheit wird essenziell
Mittlerweile haben sich in der Gridcal Alliance diverse Unternehmen zusammengeschlossen, um gemeinsam eine Komplettlösung zur Digitalisierung der Verteilnetze anzubieten. Dazu gehören unter anderem der Dienstleister Omexom und der Hersteller für Messtechnik PQ Plus. Die Gridcal Alliance setzt auf industriell erprobte und standardisierte Komponenten. Da die allermeisten der Geräte in teils jahrzehntealte Ortsnetzstationen eingebaut werden müssen, hat PQ Plus bei der Entwicklung hohen Wert auf Kompatibilität und einfache Installation gelegt.
Sicherheit ist bei den Betreibern von kritischer Infrastruktur eines der wichtigsten Themen. Bei klassischen Netzberechnungen ist sie verhältnismäßig einfach zu handhaben. Sie laufen auf zentralen Rechnern in der Leitstelle. Doch beim Echtzeitmonitoring kommt man nicht umhin, ständig eine Vielzahl von Informationen zu verarbeiten.
Um die Datenflut und damit die Anfälligkeit zu reduzieren, findet die Verarbeitung mit Gridcal so weit wie möglich direkt in den Ortsnetzstationen statt. „Wir bringen nicht die Daten zum Algorithmus, sondern den Algorithmus zu den Daten“, erklärt Huppertz. An die Leitstelle gehen nicht die gesamten Rohdaten, sondern nur die Informationen, die dort unbedingt benötigt und aktiv abgerufen werden.
Berechnung vor Ort statt in der Cloud
PS Insight setzt auf Edge-Computing in den Stationen statt auf externe Clouds. Dabei geht es nicht nur darum, Hackerangriffe zu vermeiden, sondern auch um die Hoheit über die eigenen Daten. „Wer auf eine Verarbeitung in der Cloud setzt, macht sich von der proprietären Infrastruktur eines anderen Unternehmens abhängig“, warnt Huppertz.
Auch wenn weitgehend Einigkeit besteht, dass Digitalisierung und Automatisierung in der Energiewende unverzichtbar sein werden, sind sie doch kein Selbstzweck, wie die Autoren der VDE-Studie betonen. Der Zweck, nämlich ein robustes Netz, muss im Vordergrund stehen. Dafür sind Daten zwar wichtig, aber nicht alle davon müssen immer und überall im Sekundentakt bereitstehen.
Andere werden zwar perspektivisch benötigt, aber noch nicht heute. Daher drängt die VDE-Studie darauf, einen unverhältnismäßigen Overhead in der Automatisierung zu vermeiden. Gemäß dem Motto: Keep it simple, stupid! (Simone Pabst)
https://www.vde.com/de/etg/arbeitsgebiete/v2/hochautomatisierung-von-ni…
EM-Power Europe
Digitalisierung bringt mehr Durchblick im Niederspannungsnetz
Die Energiewende macht die Stromverteilung komplexer. Um die Stromnetze besser überwachen und die Energieflüsse steuern zu können, müssen die Netze intelligenter werden. Gefragt sind einfache, kompatible und sichere Lösungen. Innovative Ideen und Lösungen finden Messebesucher auf der EM-Power Europe. Sie findet vom 19. bis 21. Juni 2024 unterm Dach der Leitmesse The smarter E Europe in München statt.
Schwerpunkte der internationalen Fachmesse für Energiemanagement und vernetzte Energielösungen sind unter anderem Technologien und Dienstleistungen für die Digitalisierung und Steuerung der Netze, für genauere Erzeugungs- und Lastprognosen sowie für die Systemintegration dezentraler Anlagen. Begleitend zur Fachmesse bietet die EM-Power Europe Conference die Gelegenheit, sich mit internationalen Experten über die intelligente Vernetzung dezentraler Solaranlagen, das Netzmanagement, die Digitalisierung, die Einbindung von Flexibilität und vieles mehr auszutauschen.
Sectors4Energy
Veranstaltung zur Sektorkopplung findet Anfang Juli in Köln statt
Am 2. und 3. Juli 2024 findet in Köln ein Expertentreffen speziell zur Sektorkopplung statt. Veranstalter sind Lorenz Kommunikation und das Fachmedium Erneuerbare Energien, eine Schwesternzeitschrift der photovoltaik im Gentner Verlag.
In Köln treffen sich Fachleute, um sich zu vernetzen und neue Entwicklungen zur Elektrifizierung der Wärmeversorgung und des Straßenverkehrs zu diskutieren. Besonderes Interesse dürfte dem Paragrafen 14a im Energiewirtschaftsgesetz gelten.
Er wurde im November 2023 neu gefasst. Der Paragraf macht den Netzbetreibern enge Vorgaben, wann sie die Stromversorgung von Wärmepumpen oder Ladepunkten für die E-Mobilität abregeln dürfen, um das Netz bei Störungen zu stabilisieren. Die Angebote und das aktuelle Programm finden Sie hier: