Draußen war es noch warm, fast überall lag die Temperatur über zehn Grad, und an den Küsten pfiff ein rauer Wind um die Häuser. In den Windparks drehten sich unermüdlich die dreiarmigen Riesen. Es war im vergangenen Jahr, am 4. Oktober, einem Sonntag, um zwei Uhr morgens. Deutschland lag im Tiefschlaf. In dieser Nacht vermeldete die Europäische Energiebörse (EEX) in Leipzig einen neuen Rekord. Der Strompreis fiel erstmals auf minus 500 Euro pro Megawattstunde. Die Betreiber der schwerfälligen Grundlastkraftwerke zahlten 500 Euro dafür, dass sie ihren Strom absetzen konnten und die Produktion nicht drosseln mussten. Eine Konstellation, die durch den Ausbau der Erneuerbaren künftig immer öfter kommen wird.
In einigen Mannheimer Haushalten beginnen in solchen Überangebotszeiten auf einen Funkbefehl hin Wasch- und Spülmaschinen ihre Arbeit. Kühlschränke nutzen die Gunst der Stunde, um die Temperatur schon mal im Voraus kostenlos um einige zusätzliche Grade zu senken. In Mannheim haben 20 Testkunden bis zum Herbst 2009 zweieinhalb Jahre lang einen an den Strompreis der EEX gekoppelten Tarif verwendet. Ein sogenannter Energiebutler, der Haushaltsgeräte automatisch fernsteuern kann, hat ihnen dabei geholfen, ihren Stromverbrauch von den teuren Spitzenzeiten weg zu verlagern und somit bares Geld zu sparen.
Nun wird dieser Ansatz mit dem Feldversuch „Modellstadt Mannheim“ fortgesetzt. Das ist eines von sechs verschiedenen Projekten, die derzeit in einigen Regionen Deutschlands unter dem Titel „E-Energy“ laufen. Damit sollen die Energienetze intelligenter und steuerbarer werden. Notwendig ist das, weil die dezentrale und wetterabhängige Stromerzeugung durch Wind und Sonne starke Zuwächse verzeichnet. Netzbetreiber müssen häufiger auf Stromspitzen und Stromflauten reagieren, die nicht an den Zyklus der Verbraucher gekoppelt sind.
Prognostizierter Sonnenschein
Die beste Lösung dafür ist, neben dem traditionellen Kraftwerksmanagement, die erzeugte Energie nicht mehr nur einfach einzuspeisen, sondern aktiv am Ort und zum Zeitpunkt der Entstehung zu nutzen. Dafür müssen die Netzmanager private und Industriekunden überzeugen, ihre gewohnten Verbrauchsmuster dem Verlauf der Erzeugung anzupassen oder Energie zu speichern. Sie sollen also ihre Lasten verschieben. Doch schon bei der kleinsten Einheit am Strommarkt, dem privaten Haushalt, sind große Anstrengungen nötig, um die typische Verbrauchskurve, das sogenannte Standardlastprofil, nur ein wenig zu verändern oder wirklich zu steuern. Für konventionelle Stromerzeuger wäre eine möglichst gleichmäßige Last über alle Stunden des Tages ideal. Bei wetterabhängigen Energiequellen sollen die Verbraucher dagegen auf Schwankungen flexibel reagieren. So initiierte der Mannheimer Versorger MVV Energie AG vor viereinhalb Jahren das Projekt „Waschen mit der Sonne“. Familien in einer Siedlung, die einen hohen Anteil Photovoltaikanlagen besaß, sollten bei prognostiziertem Sonnenschein waschen. Da dieser Ortsteil nur wenige Versorgungsleitungen besaß, lag er fast wie eine Insel im Mannheimer Netz. Die Versuchsleiter konnten die Auswirkungen des Waschverhaltens hier besonders gut beurteilen. Sie informierten die Kunden über die Waschzeiten per SMS.
„Man muss jeden Netzteil individuell betrachten“, erläutert Dr. Frieder Schmitt, Leiter für Technologie und Innovationen bei der MVV Energie. Die Steuerung hänge von der Dichte der Maschen, der Struktur und der Qualität des Netzes ab. So kann es bei einer hohen Stromerzeugung aus Photovoltaikanlagen nötig sein, auch den Verbrauch vor Ort zu verstärken und die ohnehin schon hohe Mittagsspitze weiter zu erhöhen. Im Versuch konnten tatsächlich Lastverschiebungen beobachtet werden, die das Inselnetz stabilisierten. Dennoch war schnell klar, dass dies keine Dauerlösung ist. Zwar beteiligten sich die Kunden gern und waren sehr interessiert, langfristig wünschten sie sich jedoch eine automatisierte Steuerung.
Heute ist das, zumindest im Versuch, erreicht. Der zweite Feldtest enthielt auch finanzielle Anreize für die Kunden. Der Haushalt der Familie Wirth in Mannheim- Gartenstadt besitzt einen Energiemanager, der den Gerätepark überwacht und steuert. Zwischen Stecker und Steckdose eines Elektrogerätes befindet sich eine Funkschaltbox. Diese wird von einem Computerprogramm, dem Energiebutler, gesteuert. Er entwirft einen Einsatzplan der Geräte. Als Grundlage verwendet er stündlich wechselnde Stromtarife, die von der MVV Energie im Internet für den nächsten Tag bereitgestellt werden. Basis des Tarifs war eine Preisprognose über den Strompreis der EEX, in die die voraussichtliche Nachfrage, aber auch die Wettervorhersage einfloss. Denkbar wären in Zukunft auch andere Eingangsgrößen.
Auf die Dauer lästig
Will die Hausfrau nun beispielsweise Geschirr spülen, belädt sie das Gerät wie üblich und schaltet die Funksteuerung ein. Der Energiebutler löst dann in einer Tiefpreisphase den Waschvorgang aus. Im zweijährigen Praxistest zeigte sich, wie viel Last wirklich verschoben wurde. Aber nur ein kleiner Teil der Elektrogeräte im Haushalt lässt sich tatsächlich fernsteuern. In Frage kommen dafür nur die Haushaltsgroßgeräte: Waschmaschine, Trockner, Kühl- und Gefrierschränke sowie die Spülmaschine. Üblicherweise entfallen etwa 40 Prozent des Strombedarfs auf diese Verbraucher. „Wir fanden es auf die Dauer aber lästig, dass die Wäsche immer nachts gewaschen wurde, da mussten wir früh immer zuerst Wäsche aufhängen“, erzählt Harry Wirth. Er hat deshalb den Butler angewiesen, am Tage zu waschen. Seine Unterhaltungselektronik, Herd, Backofen und Kleingeräte muss er wie bisher manuell bedienen, ihr Einsatz kann in der Regel nicht verschoben werden.
Ein interessierter Nutzer des Energiebutlers kann jedoch auch mit manuell gesteuerten Geräten eine gewisse Lastverschiebung herbeiführen. So achtet Harry Wirth stets auf die Preisprognose, bevor er den Rasen mäht oder mit elektrischem Werkzeug arbeitet. Den 20 Teilnehmern des Versuchs gelang es, im Schnitt 10 bis 12 Prozent der Lasten zu verlagern. Zusätzlich berichtet Wirth von einem deutlichen Erkenntnisgewinn. „Ich war überrascht, wie viel die Geräte tatsächlich verbrauchen.“ Die nun monatlich kommende Stromrechnung hielt ihn dazu an, seinen Energiebedarf kritischer zu betrachten. Diese Tests an echten Kunden sind also nicht nur für Energieversorger hochinteressant. Auch beim Selbstverbrauch von Solarstrom stellt sich übrigens die Frage, wie viel Mühe sich ein Nutzer gibt und welche Unterstützung er braucht, um seine Lastkurve dem Energieaufkommen besser anzupassen.
Ältere bewusster
Die größten Einsparungen verzeichneten Schmitt und Sebastian Warkentin, der Projektleiter für den Energiebutler, bei Familien, da diese von einer Verlagerung der Wasch- und Trocknerzeiten am meisten profitierten und in der Regel auch eine Kühltruhe besaßen. Besonders großes Engagement bewiesen die älteren Versuchsteilnehmer, die ebenfalls deutliche Verlagerungen des Verbrauchs erreichten. Sie beschäftigten sich überraschend gründlich mit den technischen Möglichkeiten des Energiebutlers. Junge Singles dagegen verließen sich fast völlig auf die Automatik und stellten sich ansonsten kaum um. Alle Nutzer hätten jedoch die neue Transparenz ihrer Stromrechnung begrüßt, die es ihnen ermöglicht habe, erstmals einzelnen Stromfressern nachzugehen, berichten die beiden Netzexperten. Nach Abschluss des durchweg positiv aufgenommenen Versuchs ist man von einer Umsetzung als Produkt für jedermann allerdings noch weit entfernt. Die Hindernisse sind vielfältig. So stellt schon die Menge an Daten, die nun entsteht, übermittelt und gespeichert werden muss, enorme Anforderungen an die Computerarchitektur. Rechnete der Versorger bisher einmal pro Jahr einen Zählerstand ab, muss er nun Verbrauchswerte stündlich ermitteln und verwalten. Hinzu kommen Prognosemodelle, Tarifberechnungen und Steuerdaten.
Aktiver Energiehandel
Zweites Hindernis ist der Preis selbst. Im Versuch war er direkt an die Strombörse gekoppelt und wurde durch einen Faktor erhöht, der die Fixkosten und die Gewinnmarge des Unternehmens abdecken sollte. Der Preis wurde dadurch sehr variabel. Er lag in der Nacht bei drei bis acht Cent pro Kilowattstunde und stieg in Spitzenzeiten auf 40 bis 50 Cent. Im echten Leben würden Kunden derartige Schwankungen wohl nicht akzeptieren. Außerdem bezieht die MVV Energie AG Strom auch aus anderen Quellen und aus eigenen Kraftwerken, so dass die Beschaffungspreise erheblich vom Börsenkurs abweichen. Nähme man den Beschaffungspreis als Grundlage, wäre aber die Transparenz für den Kunden dahin.
Zum Dritten lässt sich das, was heute in Mannheim möglich ist, noch lange nicht auf andere Netzbetreiber übertragen. Üblicherweise bieten Energieversorger ihre Tarife Kunden aus ganz Deutschland an. Untereinander rechnen die Netzbetreiber die Durchleitungen von anderen Unternehmen aber pauschal nach Standardlastprofil ab. Abweichungen davon sind nicht vorgesehen. Die Einsparungen durch Lastverschiebungen ließen sich also nicht über Netzgrenzen hinweg realisieren.
„Die Rahmenbedingungen auf dem Energiemarkt den neuen Bedürfnissen anzupassen, ist eine wichtige Aufgabe des Projektes E-Energy“, erläutert der Leiter der Begleitforschung Ludwig Karg. Die bisherigen Regeln sind noch ganz auf das „Einbahnstraßenmodell“ vom Großerzeuger zum Abnehmer ausgerichtet. Durch E-Energy würde auch die dezentrale Energieerzeugung ins Blickfeld des Gesetzgebers gerückt. Spätestens wenn das Erneuerbare-Energien-Gesetz ausläuft, müssen sich auch die Betreiber von Photovoltaikanlagen aktiv am Energiehandel beteiligen können. Und dafür sind dann erprobte Mechanismen nötig, die mit E-Energy einem ersten Praxistest unterworfen werden. Karg schildert eine der Möglichkeiten: „Da die EEX keine kleinen Stromverkäufer zulässt, könnten sich Eigentümer von dezentralen Anlagen zu virtuellen Kraftwerken verbinden. Je größer der Verbund wird, desto sicherer ließe sich das Stromangebot prognostizieren und anbieten.“
Änderungen am Markt
Zwar fehlen noch die Voraussetzungen, die Kommunikationstechnologie, Infrastruktur und die gesetzlichen Grundlagen für virtuelle Kraftwerke. Karg ist aber überzeugt, dass selbst der teure Photovoltaikstrom den Preiskampf in Spitzenzeiten bestehen kann. Tobias Federico, Analyst des Energiemarktes und Geschäftsführer der Energy Brainpool in Berlin, rechnet dagegen mit weiter fallenden Energiepreisen und häufigeren Abstürzen in den negativen Bereich. Verantwortlich dafür seien Änderungen der Marktmechanismen seit Januar dieses Jahres, die den starken Schwankungen der erneuerbaren Energien Rechnung trügen. „In Wahrheit ist es aber die Strafe dafür, dass unser Kraftwerkspark so unflexibel ist“, erklärt er. Die Kosten tragen alle Verbraucher gleichermaßen.
Einen gewissen Schutz bieten dann vielleicht lokale Lösungen. Deshalb tüfteln die Mannheimer schon an einem virtuellen Energiemarkt im Miniformat. Der neue Feldversuch bezieht Photovoltaik- und Mikroanlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) mit ein. Ihr digitaler Stromzähler, ein sogenannter Smart Meter, liefert die Daten der Stromeinspeisung in Echtzeit an einen virtuellen Marktplatz. Bis zum Sommer sollen dort rund 150 Teilnehmer Strom einkaufen können. So ist es zum Beispiel möglich, Ökostrom von Nachbars Dach zu wählen. Der Energiebutler schaltet die Waschmaschinen erst ein, wenn die Photovoltaikanlage die entsprechende Menge Strom ins Netz einspeist. Ob die Kunden sich intensiv mit Details auseinandersetzen oder lieber pauschal wählen, wird sich noch zeigen.
Große Speicher einbinden
Für die Versuche im E-Energy-Projekt sind Mikroanlagen mit KWK ungleich attraktiver als Photovoltaikanlagen. Denn bei ihnen lässt sich auch die Stromerzeugung den Netzanforderungen anpassen. Die Mikroanlagen sollen für den Hausbesitzer in erster Linie Wärme produzieren. Diese lässt sich im Wasserbehälter jedoch stundenlang speichern, bevor sie benötigt wird. „Lastspitzen dauern manchmal nur 30 bis 40 Minuten, deshalb können auch kleine Lastverschiebungen schon große Effekte erzielen“, erläutert Warkentin. Analog setzt die Modellregion Cuxhaven auf große Kälte- und Wärmespeicher, um überschüssige Windenergie zu verwandeln und kurzzeitig aufzubewahren. Die Kühlhäuser für Fisch sollen in lastschwachen Zeiten stärker heruntergekühlt und das Schwimmbad etwas stärker aufgeheizt werden. „Große Speicher lassen sich in einem überschaubaren Zeitraum ins Energienetz einbinden“, bewertet Ludwig Karg diesen Ansatz. „Das wird die ersten größeren Effekte bringen.“
E-Energy läuft bis 2012, dann sollen marktreife Mechanismen vorliegen. Es sei dennoch klug, dass alle Modellregionen auch an Lösungen für Privathaushalte arbeiteten. Diese benötigten einen besseren Überblick über ihren Stromverbrauch und gegebenenfalls die Erzeugung. Die neuen Applikationen müssten auf ihre Handhabbarkeit und ihre Effekte getestet werden, so Karg. Manche Regionen setzen dabei auf Smart Meter, andere auf mobile Steuerbarkeit per iPhone oder eben auf Energiemanager wie den Energiebutler. „Solche Anwendungen können in zwei bis drei Jahren marktreif sein“, schätzt Warkentin. Ein wichtiger Aspekt des E-Energy-Projektes ist somit auch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. „Ein Brainstorming hat allein 120 Geschäftsideen zutage gefördert“, schwärmt Karg vom neuen Internet der Energie. Da gebe es ganz neue Welten zu entdecken. Vergleichbar sei die Entwicklung mit dem Telekommunikationsmarkt. Zu Beginn der Liberalisierung war dort auch nicht absehbar, welche Blüten, vom Klingeltonabo bis zum Tarifoptimierungsberater, der Markt einmal treiben würde.
Käufer von Photovoltaikanlagen müssen künftig wohl selbst entscheiden, wie sie ihren Strom vermarkten wollen. Schließen sie sich einem virtuellen Kraftwerk an, unterwerfen sie ihre Anlage einer Fremdregelung oder beteiligen sie sich an Netzsystemdiensten, akquirieren sie Abnehmer in der Nachbarschaft oder richten sie eine Elektroautotankstelle ein? Ein Smart Grid böte viele Chancen. Wie schnell es dazu kommt, hängt jedoch davon ab, wie zügig der Energiesektor es schafft, Intelligenz aufzubauen. Bis dahin ist die Photovoltaik noch auf die Unterstützung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz angewiesen.