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Therapie am Arbeitsplatz

Wenn Franziska Dietrich zur Arbeit kommt, dann lachen sie knackige Bio-Äpfel und Birnen an. Sie wird regelmäßig aufgefordert, sich doch an den kostenlosen Getränken zu bedienen; einmal im Monat kommt ein Masseur ins Haus und kümmert sich um angespannte Rücken. Und obwohl sie jederzeit mit der Firmenkarte in die Sauna, ins Schwimmbad oder ins Fitnessstudio gehen kann, arbeitet Dietrich nicht etwa in einer Wellnessoase. Sie ist vielmehr bei dem Photovoltaik-Systemdienstleister SES 21 AG in Polling-Oderding in Oberbayern beschäftigt. Das Unternehmen mit etwa 60 Mitarbeitern bemüht sich vorbildlich um die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter. Und diese zahlen es mit Motivation und Leistungsbereitschaft zurück. „Die letzten Monate waren bei uns besonders hektisch“, sagt Vorstand Ingo Martin. „Aber wir hatten trotzdem nur einen Krankenstand von 0,7 Prozent.“ Das liege daran, dass die Mitarbeiter ihre acht Stunden gerne in der Firma verbringen. Auch nach der Arbeit träfen sich viele, um noch gemeinsam joggen oder nordisch walken zu gehen.

Statt Hektik mehr Produktivität

Hektik und Termindruck, lange Stunden am Computer und teils auch schwere körperliche Arbeit bestimmen den Arbeitsalltag in der Photovoltaik. Dennoch gibt es nur wenige Unternehmen, die sich bewusst darum bemühen, ihren Mitarbeitern einen Ausgleich zu verschaffen. In kleineren Firmen zehrt das anstrengende Tagesgeschäft an jeder zusätzlichen Initiative. Und auch große Firmen konzentrieren sich so stark auf ihr Kerngeschäft, dass Gesundheit und Krankheit dem externen, ja privaten Bereich zugeordnet werden. Dabei kann die betriebliche Gesundheitsförderung sehr positive Auswirkungen haben. Praxisbeispiele, die die AOK vorstellt, lesen sich wie erfolgreiche Prozessoptimierungsmaßnahmen. Als Ergebnisse, die Unternehmer gerne herausstreichen, werden beispielsweise genannt: „weniger Reklamationen und größere Termintreue“, „mehr Kundenzufriedenheit“ oder „mehr Produktivität“. Das alles können die Auswirkungen sein, wenn sie sich den Primärzielen der Gesundheitsförderung widmen: der Reduzierung körper licher Belastungen, der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen, einem besseren Betriebsklima, der Senkung von Fehlzeiten und der Stärkung der innerbetrieblichen Kooperation. Karlheinz Bayer, Berater im betrieblichen Gesundheitsmanagement der AOK, weiß von seinen Einsätzen in Betrieben: „Oft ist es eine immense Anzahl von Kleinigkeiten, die da zusammenkommen.“ Es seien diese kleinen Reibereien und Unstimmigkeiten, die das Arbeitsklima belasten und in ihrer Summe zu Stress und Ärger führen. „Das zu beseitigen, ist nicht kostenintensiv, denn wir setzen dabei auf die Erfahrung und die Vorschläge der Mitarbeiter. Es wurde einfach bisher nicht gesehen, nicht behoben, nicht realisiert.“ So gesehen ist Gesundheitsmanagement keine neue Verwaltungsaufgabe, sondern eine Methode, sich regelmäßig den kleinen und großen Missständen im Unternehmen zu öffnen, die Einfluss auf die Gesundheit haben können.

Krank durch Arbeit

Den Löwenanteil an den arbeitsbedingten Erkrankungen halten die Muskel- Skelett-Erkrankungen. Sie verursachen etwa ein Drittel der Arbeitszeitausfälle. Ihr Anteil bleibt seit mehr als zehn Jahren etwa gleich, obwohl der Anteil zurückgeht, der durch körperlich belastende Tätigkeiten entsteht. Gleichzeitig steigt aber der Teil, der aufgrund der statischen Haltung an Computerarbeitsplätzen hervorgerufen wird. Der zweitwichtigste und ständig wachsende Bereich umfasst die psychischen Erkrankungen, die durch hohen äußeren und inneren Druck, den Zwang zur ständigen Erreichbar- und Verfügbarkeit, Multitasking, Mobbing oder durch eine unsichere Arbeitsplatzsituation hervorgerufen werden. Chronischer Stress verursacht Herzerkrankungen und Erschöpfungszustände bis zum Burn-out-Syndrom. Psychische Probleme dürften auch eine Ursache sein, wenn Mitarbeiter innerlich kündigen. „Ein Beschäftigter, der an einer psychischen Erkrankung leidet, fällt im Durchschnitt 25,9 Arbeitstage aus“, sagt Rainer von Kiparski, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Deutschen Sicherheitsingenieure (VDSI) und Professor für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation. „Bereits jetzt entfallen neun Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische und Verhaltensstörungen.“

Um diesen Problemen zu begegnen, stützt sich die betriebliche Gesundheitsförderung auf drei Säulen. Das ist zum einen die Verhaltensprävention, die darauf zielt, die Mitarbeiter zu einer gesünderen Lebensweise anzuhalten, und dieses Ziel zum Beispiel mit Rückenschulen, Stressbewältigungskursen, Sportgruppen oder Suchtberatung verfolgt. Zum zweiten ist das die Verhältnisprävention, die die Arbeitsbedingungen verbessert, zum Beispiel die Ergonomie am Arbeitsplatz oder die Arbeitsorganisation. „Dabei geht das eine nicht ohne das andere“, betont Bayer. „Wer nur das Verhalten seiner Mitarbeiter beeinflussen will, sorgt dafür, dass eine mündige Belegschaft schnell aussteigt.“ Wer es wirklich ernst meine, müsse auch die Arbeitssituation ins Auge fassen.

Und zu der gehört auch die dritte Säule: die Systemprävention. Hierbei geht es darum, die Gesundheitsförderung als System im Unternehmen zu verankern, die Kommunikation darüber zu ermöglichen sowie klare Instrumente und Strukturen zu entwickeln. So sei es beispielsweise Aufgabe des Unternehmers, Spielregeln für den Umgang mit digitalen Kommunikationsmitteln festzulegen, empfiehlt von Kiparski.

Kleine Betriebe zögern

Eine aktuelle Befragung der Initiative Arbeit und Gesundheit ergab, dass von mittelständischen Betrieben mit einer Größe von 50 bis 499 Mitarbeitern gerade mal ein Drittel betriebliches Gesundheitsmanagement betreibt. Je kleiner der Betrieb ist, desto seltener gibt es entsprechende Ansätze. An kleinen und Kleinstbetrieben geht das Gesundheitsmanagement bislang vorbei, hat die Techniker Krankenkasse ermittelt. Und wenn etwas getan wird, fehle oft ein ganzheitliches Konzept. Stattdessen tendierten die Unternehmer zu Einzelmaßnahmen. Insbesondere fehlten Angebote zur Reduzierung psychischer Belastungen, da primär gesetzliche Vorschriften zugunsten des Arbeitsschutzes erfüllt werden. Wenn Unternehmer die Gesundheitsförderung ablehnen, befürchten sie meist hohe Kosten, sie geben vor, keine Zeit zu haben oder keine Gesundheitsprobleme. Manche haben Angst, die Initiative könnte bei ihren Mitarbeitern schlecht ankommen. Einige sträuben sich auch reflexhaft gegen eine neue Aufgabe, die gemeinsam mit vielen anderen von außen an das Unternehmen herangetragen wird und Zeit fordert. Ingo Martin hält das für nicht stichhaltig. „Nach dem Laufen brauche ich zehn Minuten, um mich zu regenerieren und bin danach erfrischt. Die Zeit bekomme ich doppelt und dreifach zurück.“ Für 2010 hat sich die SES 21 AG ein Gesundheitsbudget von 6.000 Euro gegeben. „Im Vergleich zum Umsatz in der Branche fallen diese Ausgaben kaum ins Gewicht.“

Krankenkassen beraten

Wenn ein Unternehmen sich entschließt, mit der Gesundheitsförderung zu beginnen, gehen die Meinungen, wie das zu schaffen ist, auseinander. Einig sind sich die Experten darüber, dass man im Kleinen und Konkreten beginnen sollte. So hat die SES 21 AG zunächst Massagen für die rückengeplagten Mitarbeiter angeboten und bestellt für den Snack zwischendurch wöchentlich einen Bio-Obstkorb. Weil das gut ankam, hat sich Franziska Dietrich von der Barmer GEK und der AOK beraten lassen. Die eine Krankenkasse beteiligte sich an den Kosten für einen Gesundheitstag zum Thema Rücken, Fitness und Ernährung. Die andere spendierte einen Lauftrainer, der einige Male die Jogging- und Nordic- Walking-Gruppe begleitete. In Eigenregie folgte ein Gesundheitszirkel, der eine Mitarbeiterbefragung veranlasste. Es stellte sich heraus, dass tatsächlich

50 Prozent der Angestellten über Rücken beschwerden klagten, obwohl die Arbeitsplätze vom Betriebsarzt regelmäßig überprüft werden. Damit ist das Ziel klar: Bewegung und Fitness sollen weiter gefördert werden. Inzwischen gibt es vier Blindcards für Kollegen, die ins Fitnessstudio gehen wollen, und zehn Sportmatten für arbeitsplatzbezogene Rückenschulungen im Betrieb. Insgesamt sei der Krankenstand in den letzten drei Jahren von fünf auf zwei Prozent gefallen, berichtet Franziska Dietrich.

Die SES 21 AG verfügt über einige typische Faktoren, die Gesundheitsförderung in kleinen Unternehmen erfolgreich machen. Der Inhaber beispielsweise, in diesem Fall der Vorstand, ist selbst sportlich und gesundheitsbewusst. Es gibt eine Person, die sich aus Überzeugung, und nicht nur weil es ihr aufgetragen wurde, für das Projekt engagiert. Außerdem werden die Mitarbeiter beteiligt und können die Erfolge am eigenen Leib erleben. „Ich habe festgestellt, dass es in unserer kleinen Küche nun viel seltener Pizza oder Döner gibt, und wir sehen auch, dass die Leute an Gewicht verlieren“, sagt Dietrich.

Oft ist es die persönliche Betroffenheit des Geschäftsführers oder die Sorge mit einem langwierig Kranken, die Unternehmer dazu bringen, den Kontakt zur Krankenkasse zu suchen. Wie kann man vorbeugen und wie lassen sich häufigere Krankheiten verhindern, sind dann die Fragen an die Gesundheitsmanagementberater. Für den Einstieg empfiehlt Karlheinz Bayer von der AOK zunächst eine Analyse der Situation. Sei es durch eine Mitarbeiterbefragung oder bei größeren Unternehmen durch einen Krankenstandsbericht der Krankenkasse. Solch ein Bericht kann aus Datenschutzgründen erst ab 50 Versicherten bei einer Kasse erstellt werden und enthält Hinweise zu häufig auftretenden Krankheiten und möglichen Ursachen sowie einen Vergleich mit dem Branchendurchschnitt. Ein abgespecktes Profil könne auch schon ab 20 Versicherten wertvolle Hinweise liefern.

„Natürlich ärgern sich auch kleine Unternehmer über Ausfälle von Mitarbeitern, aber sie stellen sich selten die Frage nach einem Fehler im System“, erläutert Ulrike Roth, leitende Arbeitsmedizinerin beim Arbeitsmedizinischen Dienst des TÜV Rheinland. Sie rät Unternehmern, zuerst einmal auf die eigene Gesundheit zu achten. „Wenn der Chef ausfällt, ist das für einen Kleinbetrieb existenzbedrohend.“ Daher solle er bewusst in Ausgleichsmaßnahmen investieren. Vor allem sollten Mittelständler nicht auf allzu schnelle Ergebnisse hoffen, warnt Bayer. Die Erfolge zeigten sich eher nach zwei bis drei Jahren. Dann jedoch würde sich das Investment oft im Verhältnis von eins zu drei oder eins zu vier auszahlen.

Wegbereiter Großbetriebe

Große Unternehmen haben meist schon in den 80er Jahren mit der Gesundheitsförderung begonnen und können heute als Vorreiter dienen. So profitieren die 1.200 Mitarbeiter der Schott Solar AG von den Gesundheitsstrukturen im Schott-Konzern. Dort wurde das betriebliche Gesundheitsmanagement ursprünglich von den Werksärzten initiiert. Inzwischen werde es seit 15 Jahren intensiv und nachhaltig betrieben, sagt Lars Waldmann, Sprecher der Schott Solar. Das Verhältnis von Angestellten am PC und Mitarbeitern, die in Produktion, Lager, Service und Labor auch körperlich arbeiten, beträgt etwa 20 zu 80. Dennoch gebe es über Rückenbeschwerden und Stress hinaus keine „branchentypischen“ Gesundheitsbeschwerden. „Auch wenn Handwerker bei Wind und Wetter draußen sind, muss das für ihre Gesundheit nicht nachteilig sein“, sagt Ulrike Roth. Wenn die Arbeit gut organisiert ist und die Mitarbeiter fit sind, dann stünden körperlich arbeitende Menschen gesundheitlich oft besser da als zum Beispiel Callcenter-Mitarbeiter, die oft viel Ärger abbekommen.

Stark belastet sind bei Schott die Mitarbeiter der Nachtschicht. Für sie und für Beschäftigte über 40 ist das Drei-Burgen-Klinik-Programm gedacht. Wer möchte, kann sich dort einem dreitägigen intensiven Check-up unterziehen. Gemeinsam mit den Medizinern werden Gesundheitsprobleme aufgedeckt und ein Therapieplan erarbeitet. Auch sonst kann Schott mit Angeboten punkten, die für kleine Firmen nur schwer umsetzbar sind. So gibt es ein Beratungstelefon, eine Burn-out-Vorsorge, Psychologen und ganze Aktionswochen wie die zum Thema „Stress – Nein, danke“. An allen Produktionsorten ist ein Betriebsarzt anwesend, und ein ganzer Breitensportverein, der TSV Schott Mainz, trägt den Namen der Firma. Obwohl Schott weder den finanziellen Einsatz noch die Einsparungen durch das Gesundheitsmanagement genau beziffern kann, ist Waldmann überzeugt: „Es zahlt sich aus!“ Es gebe genügend unabhängige Studien, die belegten, dass die Motivation mit dem Wohlbefinden der Mitarbeiter steigt.

Viele Beispiele belegen, dass eine Win-Win-Situation entsteht, bei der Unternehmen und Mitarbeiter profitieren, wenn die betriebliche Gesundheitsförderung über den gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitsschutz hinausgeht. SES-Vorstand Martin: „In unserer Region ist die Arbeitslosenquote sehr niedrig, und den Wettbewerb um die besten Gehälter können wir nicht gewinnen. Mit der Gesundheitsförderung und unserem guten Betriebsklima gelingt es uns aber zu punkten.“ Wer dem Fachkräftemangel, der Alterung der Belegschaft und dem Problem, dass einzelne Mitarbeiter in einer Arbeitswelt ohne Puffer nur schwer ersetzbar sind, begegnen möchte, sollte die ausgestreckte Hand der Gesundheitsbranche ergreifen und mit ihr maßgeschneiderte Programme für die Belegschaft entwickeln.

Cornelia Lichner

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