Es war kein Aprilscherz: Wer am 1. April 2012 um 16 Uhr an der Strombörse EEX in Leipzig Strom für den nächsten Tag einkaufte, konnte sich über eine kostenlose Lieferung freuen. Grund war der prognostizierte Solar- und Windstrom, dessen Menge nicht nur die noch benötigten konventionellen Leistungen deutlich reduzierte, sondern auch die im Tagesverlauf rapide ansteigende Nachfrage bedienen konnte. Die Folge: Während der Strompreis am Ende der Nacht noch zwischen zwei und drei Cent lag, rutschte er am Nachmittag auf null. Und: Die durchschnittlichen Strompreise zur Peak-Zeit von 8 bis 20 Uhr lagen unter den Tagesdurchschnittspreisen. Die Zeiten hoher Strompreise zur Mittagszeit sind damit wahrscheinlich gezählt: An halbwegs sonnigen Tagen wird Strom mittags künftig billiger zu haben sein als in der Nacht.
Teure Kraftwerke seltener am Netz
Was Stromkunden freut, macht Kraftwerksbetreibern Sorgen. Das liegt an einem Grundprinzip der EEX: Strom wird an der Börse zu den Grenzkosten des jeweiligen Kraftwerkes angeboten, die sich aus den Kosten für Brennstoffe und CO2 -Zertifikate sowie anderen Betriebskosten wie Personal zusammensetzen. Was folgt, ist als Merit-Order-Effekt bekannt: Die Börse sortiert den gesamten angebotenen Strom, beginnend mit dem günstigsten Angebot. Den Zuschlag erhalten dann der Reihe nach alle Anbieter, deren Strom zur Deckung der Nachfrage benötigt wird. Und den Preis für die gesamte verkaufte Strommenge bestimmt das letzte – und damit das teuerste – dafür notwendige Kraftwerk. Je mehr Strom aus erneuerbaren Quellen an die Börse kommt, umso mehr gehen daher besonders teure Kraftwerke leer aus und umso stärker sinkt der sogenannte Markträumungspreis. Umso mehr sinken aber auch die Beträge, die Anbieter über die Grenzkosten hinaus erwarten können – und mit denen sie bisher in der Regel nicht nur Bilanzen vergoldet, sondern auch Kraftwerke gebaut beziehungsweise modernisiert haben. Zwar wird in Deutschland nur ein Bruchteil des Stroms über die Börse gehandelt. Aber auch außerbörslich, beim sogenannten Over-the-counter-Geschäft, sind keine großen Abweichungen wahrscheinlich, da die Börsenpreise als Referenz dienen.
Den Anbietern von erneuerbaren Energien kann das „Missing Money“ genannte Problem zunächst egal sein. Zum einen gehen ihre Grenzkosten gegen null, zum anderen ist die Refinanzierung ihrer Anlagen in der Regel durch die im EEG festgesetzten Einspeisevergütungen gesichert. Ein zweiter Blick offenbart jedoch das Dilemma: Als Puffer für das fluktuierende Stromangebot aus Sonne und Wind sowie die im Tages- und Jahresverlauf schwankende Stromnachfrage werden weitere Kraftwerke gebraucht, die möglichst flexibel auf das Marktgeschehen reagieren können, beispielsweise Gas- oder Pumpspeicherkraftwerke. Deren Grenzkosten liegen jedoch recht hoch. Daher werden sie ihren Strom häufig entweder gar nicht über die Börse absetzen können oder eben nur zu den Grenzkosten – die jedoch nur die laufenden Ausgaben finanzieren und nicht das Kraftwerk selbst. „Wenn es darum geht, langfristig konventionelle Kraftwerkskapazitäten zuzubauen, müssen wir über die Rahmenbedingungen reden“, sagte die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) Hildegard Müller Anfang Mai nach einem Hintergrundgespräch im Kanzleramt. Mit langfristig meint sie: ab 2020. „Die wirtschaftlichen Anreize reichen im Moment nicht aus.“
Rahmenbedingungen umstritten
Offen ist die Frage, wie zusätzliche wirtschaftliche Anreize aussehen könnten, wenn es ohne neue konventionelle Kraftwerke nicht geht – und danach sieht es aus, immerhin muss auch der wegfallende Atomstrom ausgeglichen werden. Im Grunde ist die Finanzierungsfrage so alt wie die Strombörse selbst. Vor der Liberalisierung der Strommärkte waren die Gesamtkosten die entscheidende Größe, zu der Versorger ihren Strom verkauften; Kraftwerksinvestitionen waren neben vielen anderen Dingen selbstverständlich eingepreist. Die Strombörse ist aber als sogenannter Energy-Only-Market konzipiert, auf dem es nur um das Produkt Strom geht und nicht um die für seine Erzeugung notwendige Kapazität. Und dieses Grundprinzip könnte zu einem Problem werden, je mehr Strom zum Nulltarif angeboten werden kann. Ob es wirklich ein Problem ist, ob sich Investitionen zum Beispiel in neue Gaskraftwerke angesichts der Rahmenbedingungen wirklich nicht mehrlohnen, ist jedoch umstritten. Und Überlegungen, welche Mechanismen den bestehenden Energy-Only-Market ergänzen oder ablösen könnten, stehen noch ganz am Anfang. Immerhin sieht selbst BDEW-Chefin Müller keinen akuten Handlungsbedarf. „Wir brau-chen keine überhastete Einführung von Instrumenten.“
Staatlicher Handlungsbedarf?
Die Monopolkommission der Bundesregierung bezweifelt grundsätzlich, dass es bei der Finanzierung neuer Kraftwerke ein Missing-Money-Problem und daher staatlichen Handlungsbedarf gibt. Vorsitzender Justus Haucap räumt zwar ein, dass neue Erzeugungskapazitäten nicht von allein entstehen. Ihm habe aber noch niemand überzeugend darlegen können, dass Steuergelder fließen müssen, um den Bau von Kraftwerken anzureizen. „Die Forward-Märkte zeigen seit dem Wegfall der acht Kernkraftwerke einen klaren Preistrend nach oben. Das sollte den Anreiz erhöhen, neue Kraftwerke zu bauen.“ Immerhin: Noch wird gebaut. Hildegard Müller hat auf der Hannover Messe eine sechsseitige Liste des BDEW mit Kraftwerksprojekten ab 20 Megawatt in Deutschland präsentiert. „Die Kraftwerksliste zeigt, dass genügend Projekte in der Pipeline sind, um die abgehende Kernenergie zu ersetzen und als Back-up für die erneuerbaren Energien zu fungieren.“ Zu den 69 laufenden Projekten mit fast 36 Gigawatt Kapazität gehören 25 Gas- und 15 Kohlekraftwerke, 23 Offshore-Windkraft-Projekte sowie vier Pumpspeicher-Kraftwerke. 15 weitere Bauprojekte mit insgesamt 6,4 Gigawatt sind noch in Planung.
Etliche dieser Pläne dürften jedoch Pläne bleiben. Erst im Februar hatte beispielsweise der norwegische Kon- zern Statkraft bekannt gegeben, sein 430-Megawatt-Gaskraftwerk in Emden nicht zu modernisieren, sondern in Kaltreserve zu stellen. Pläne für den Bau einer neuen Anlage am gleichen Standort wird das Unternehmen nicht weiter verfolgen, erklärte Geschäftsführer Jürgen Tzschoppe: „Die Finanzkrise hat zu einem Rückgang in der Stromnachfrage geführt. Zudem stehen derzeit im Spotmarkt hohe Gaspreise niedrigen Strompreisen gegenüber; ein klares Signal für einen europaweiten Kapazitätsüberschuss bei der Erzeugung.“ Auch RWE-Vorstand Leonhard Birnbaum hält die Kapazitäten für ausreichend. Schon beim Deutschen Energiekongress im September 2011 in München hat er sich daher dagegen ausgesprochen, nicht erst tatsächlich gelieferte Energie zu bezahlen, sondern schon ihre Bereitstellung – er ist also gegen einen Kapazitätsmarkt, der Investitionsanreize für den Bau konventioneller Kraftwerke bringen könnte: „Kapazitätsmärkte bieten lediglich die Möglichkeit, Geld für Anlagen zu bekommen, die sich sonst nicht rechnen würden.“ Jede neue Art der Subvention stoße auf Profiteure und sei im Nachhinein schwierig wieder abzuschaffen. Schon wenn die Bundesregierung laut über solche Maßnahmen nachdenke, schaffe sie Fakten, weil potenzielle Investoren erst einmal abwarten würden.
Widerspruch erntete Birnbaum allerdings von Willem Schoeber, Vorstandsmitglied des norddeutschen Energieversorgers EWE. Ohne zusätzliche finanzielle Anreize für den Bau fossiler Kraftwerke, so Schoeber, könnten die alten Strukturen in der Energiewirtschaft nicht aufgebrochen werden. Denn anders als die großen Versorger seien kleinere Unternehmen nicht in der Lage, unwirtschaftliche Kraftwerke mithilfe von wirtschaftlichen gegenzufinanzieren.
Wettbewerb oder Planwirtschaft
Andererseits: Ein Kapazitätsmarkt macht die Kraftwerks- und Investorenlandschaft sehr wahrscheinlich weder durchlässiger noch effizienter – und schon gar nicht billiger. Zwar gibt es diverse Varianten, einen Kapazitätsmarkt zu gestalten. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob der Staat schlicht den Bau von Kraftwerken subventioniert, ob er eine Entschädigung zahlt, wenn ein Kohlekraftwerk heruntergefahren werden muss, oder ob er Auktionen veranstaltet, bei denen Erzeuger auf ausgeschriebene Kapazitätsmengen bieten. Allerdings, gibt Kartellamtschef Andreas Mundt zu bedenken, „hätte eine Einführung von Kapazitätsmärkten planwirtschaftlichen Charakter“. Eine zentrale Stelle müsse sich damit beschäftigen, wer wo welche Kraftwerke bauen solle und wie diese finanziert würden – obwohl bislang bei den Experten keine Einigkeit darüber bestehe, ob und wann Kapazitätsengpässe drohen könnten. „Natürlich sehen wir als Wettbewerbshüter auch das Argument der Versorgungssicherheit“, sagtMundt. „Unter diesem Gesichtspunkt wollen wir neue Modelle auch keineswegs von vornherein verteufeln.“ Mehr Regulierung und weniger Wettbewerb sei jedoch selten eine Entscheidung zugunsten des Preis-Leistungs-Verhältnisses.
Noch eindeutiger ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Universität Düsseldorf, dessen Leiter übrigens Monopolkommissar Haucap ist. Die Autoren beantworten die zentrale Frage der Studie, ob Deutschland einen Kapazitätsmarkt für Kraftwerke braucht, mit nein. Sie stellen zwar ein mögliches Kapazitätsmarktmodell für Deutschland vor, weisen aber darauf hin, „dass ein derartiges System kurzfristig weder notwendig ist noch für Deutschland isoliert eingeführt werden sollte. Ein umfassender Kapazitätsmarkt kann, wenn überhaupt, bei zusammenwachsenden Märkten nur auf europäischer Ebene sinnvoll implementiert werden.“ Bisher gebe es aber keinen stichhaltigen Beleg dafür, dass das derzeitige deutsche Marktsystem den Anforderungen an die Versorgungssicherheit nicht gerecht werden könne. „Die ursprüngliche theoretische Begründung für ein etwaiges Versagen des Energy-Only-Marktes liegt in der Missing-Money-Problematik. Einer der Hauptgründe für das Missing-Money-Problem sind regulierte Preisobergrenzen. Eine solche Preisobergrenze existiert jedoch in Deutschland nicht.“ Zwar gebe es beim Börsenhandel eine rein technisch bestimmte Obergrenze von 3.000 Euro je Megawattstunde, diese habe aber kein regulatorisches Ziel und sei auch noch nie erreicht worden. Vielmehr habe es in Deutschland bisher nur selten Preise über 100 Euro und so gut wie nie Preise über 500 Euro je Megawattstunde gegeben.
Atomausstieg nutzt Kohle und Gas
Ein weiterer Punkt wird in der Diskussion oft übersehen: Der laufende Atomausstieg verbessert die Rentabilität der bereits bestehenden Kohle- und Gaskraftwerke. Das zeigt eine Studie des Öko-Instituts und der Universität Leipzig im Auftrag des Bundesumweltministeriums, die sich mit der Investitionsdynamik im Kraftwerksbereich befasst und seit Ende März vorliegt. Mit dem Atomstrom fällt in der Merit-Order-Kurve der Börse demnach eine relativ billige Stromart weg. Als Folge kommen teurere Kraftwerke damit nicht nur häufiger zum Einsatz, sondern erzielen für ihren Strom auch attraktivere Preise; ihre Wirtschaftlichkeit verbessert sich. „Damit trägt der beschleunigte Kernenergieausstieg zur Sicherstellung fossiler Kraftwerkskapazität während des Übergangs zu einer erneuerbaren Stromversorgung bei“, so das Fazit der Studienautoren. Dadurch „können Kraftwerke im System gehalten werden, die kurz- und mittelfristig für die Systemstabilisierung notwendig sind. Damit reduziert sich der Bedarf an Neubaukraftwerken.“ Die Forscher des Öko-Instituts und der Universität Leipzig betonen – übrigens im Einklang mit der Studie des Instituts für Wettbewerbsökonomie – noch einen weiteren wichtigen Schlüssel: mehr Flexibilität, und zwar sowohl aufAngebots- als auch auf Nachfrageseite. Diese Flexibilität könne nicht nur durch den Zubau von Spitzenlastkraftwerken erreicht werden, sondern auch über Netzausbau, Lastmanagement, virtuelle Kraftwerke, Speicherlösungen sowie einen intelligenteren und sparsameren Energieeinsatz. In diesem Zusammenhang melden sich jetzt auch verstärkt die Anhänger des Negawatt-Konzeptes zu Wort, das Amory Lovins schon 1989 am Rocky Mountain Institute propagierte. Lovins zufolge ist es für eine Volkswirtschaft günstiger, schwankenden Strombedarf über eine temporäre Drosselung des Verbrauchs zu decken als über zusätzliche Erzeugungskapazitäten nur für Lastspitzen: Großverbraucher könnten bei Stromverbrauchsspitzen dafür bezahlt werden, dass sie ihren Verbrauch drosseln. Als geeignet gelten dafür interessanterweise Industrien mit besonders hohem Stromverbrauch, beispielsweise chemische Betriebe, Aluminiumhütten oder große Kühlhäuser, die mehrere Stunden mit wenig Strom auskommen können – sie könnten Negawatt-Kraftwerke werden und dabei schnell Größenordnungen erreichen, zu denen Haushalte erst nach langwierigen und teuren Smart-Metering-Maßnahmen in der Lage sein werden, wenn überhaupt.
Im Grunde stehen die Forschungen zur deutschen Versorgungssicherheit mit Strom und einem möglichen neuen Marktdesign noch ganz am Anfang. Das Potsdamer Institut für Nachhaltigkeitsforschung beispielsweise hat im März die Plattform Energiewende (Transdisciplinary Panel on Energy Change, TPEC) ins Leben gerufen, die sich in einem ersten konkreten Projekt mit der Preisbildung am Strommarkt befasst. Die Forscher wollen herausfinden, wie die etablierten Strukturen am Strommarkt zu den Herausforderungen durch erneuerbare Energien passen und was effektive Anreizsysteme für konventionelle Erzeugung und Flexibilität sind. Dabei soll auch untersucht werden, wie hoch der Bedarf tatsächlich ist, welche Modelle es gibt und wie man sie auf Deutschland übertragen kann. Der Lehrstuhl für Energiewirtschaft der Universität Duisburg-Essen, das Aachener Büro für Energiewirtschaft und technische Planung und Energie-Großhändler Trianel arbeiten – unterstützt vom Bundesumweltministerium – ebenfalls an einem Forschungsprojekt für die zukunftsfähige Ausgestaltung der Elektrizitätsmärkte. Das bis 2014 laufende Projekt „Desire“ beschäftigt sich mit dem Marktdesign unter besonderer Berücksichtigung der vernetzten Einspeisung von regenerativen Energien.
Börse auf dem Prüfstand
Auch an der Leipziger Strombörse brüten Mitarbeiter über Möglichkeiten für ein neues Marktdesign – bislang ohne Ergebnis. Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) hat vorgeschlagen, dass flexible Kraftwerke, die in Zukunft nur noch wenig zum Einsatz kommen könnten, aber zur Stabilisierung des Stromnetzes dringend notwendig sind, höhere Strompreise verlangen können als die üblichen Grenzkosten. Kritiker sprechen allerdings von einer Art Stillstandsprämie und bezeichnen einen solchen Eingriff als den Anfang vom Ende einer funktionierenden Strombörse – wobei mit Strombörse das aktuelle System zur Strompreisfindung gemeint ist, nicht die EEX selbst. Das Unternehmen hat gerade nicht nur sehr gute Zahlen für das vergangene Geschäftsjahr vorgelegt, sondern auch seine Position als führende europäische Energiebörse weiter ausgebaut. Gleichzeitig tragen die Geschäftsfelder jenseits des Stromhandels – unter anderem der Handel mit Gas und CO2 -Zertifikaten – immer stärker zum Umsatz bei. Von Sorgen um die Zukunft des Unternehmens ist bei der EEX daher nichts zu spüren, allen Diskussionen um einen möglichen Ausstieg aus dem Energy-Only-Market in Deutschland zum Trotz. Und solange an der EEX mit Strom gehandelt wird, fließen dafür auch Gebühren. Auf null rutscht höchstens der Strompreis selbst.