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Viel Lärm um nichts

„Wir setzen auf Sonne.“ So lautet der Slogan der Entente Solare, mit der Bürstadt eine Dachmarke als Solarmetropole aufbauen will. Einen Weltrekord hält die 16.000 Einwohner zählende Stadt derzeit mit einer PV-Dachanlage mit einer Leistung von fünf Megawatt. Mit einem Anteil des Solarstroms von über zehn Prozent hat Bürstadt immer wieder Spitzenplatzierungen in der Solarbundesliga erreicht. „Mit einer Kombination aus Lärmschutz und Solarstrom wollen wir in unserem neuen Baugebiet Sonneneck einen weiteren Meilenstein setzen“, erzählt Micha Jost, der Umweltbeauftragte der Kommune: Vor einer über 400 Meter langen Lärmschutzwand soll eine rund 125 Kilowatt starke Photovoltaikanlage montiert werden. Dabei werden die 2.090 Kaneka Silizium-Dünnschichtmodule in Fünfer-Reihen in einer Höhe von 1,88 bis 6,82 Meter und einer Neigung von 72 Grad befestigt. Die Lärmschutzwand soll auf 600 Meter ausgebaut und die PV-Anlage entsprechend um 50 Prozent vergrößert werden. Davor liegt ein über zehn Meter breiter Grünstreifen, auf dem am äußeren Rand eine rund drei Meter hohe Hecke als Sichtschutz gepflanzt werden soll. Auf der anderen Straßenseite befinden sich in einem Abstand von gut 18 Metern von der PV-Anlage die zweistöckigen Wohnhäuser des Neubaugebiets.

Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Bei etlichen Anliegern stößt die solare Verkleidung der steinernen Lärmschutzwand sauer auf. „Sonnenstrom für 40 Haushalte, 70 Tonnen Kohlendioxid weniger pro Jahr. Ist das nicht eigentlich eine gute Sache?“, fragte Redakteur Bernhard Zinke gut drei Dutzend Anwohner bei einer Diskussionsrunde des „Südhessen Morgen“ im vergangenen Mai. „Nicht für die Anwohner“, meinte Richard Schöcker, der als deren Sprecher gleich seinen Anwalt mitgebracht hatte. „Durch die Reflexionen von Licht und Wärme sowie Elektrosmog müssen wir Einbußen unserer Lebensqualität befürchten“, so der Einwand. Darüber hinaus seien die Kinder der Anwohner durch die Sonnenwand bedroht. Die Module samt Befestigung seien eine gefährliche Klettermöglichkeit. Und die Sichtschutzbepflanzung gar eine Einladung an dunkle Gestalten. Ob er ernsthaft behaupten wolle, dass die Solaranlage Triebtäter anlocke, musste er sich deshalb von Moderator Zinke fragen lassen. Und Bürstadts Bürgermeister Alfons Haag warf Schöcker unfaire Argumentation vor. Die ernsthafteren Bedenken prüfte die Ingenieurabteilung der Berliner Solarpraxis in einem Gutachten für die Gemeinde. „Substanzielle Anhaltspunkte für eine mögliche Beeinträchtigung der Anwohner ergaben sich nicht“, sagt Wirtschaftsingenieur Jens Kusche.

Sonnigere Nordzimmer

Die Frage, ob von der Solarwand tatsächlich eine störende Blendwirkung ausgeht, beantworten die Gutachter so: Vier Prozent des einfallenden Lichtes wird durch die PV-Anlage reflektiert. Denn bei den vorgesehenen Kaneka K-60 Modulen wird ein spezielles Deckglas mit TCO-Beschichtung verwendet, um Reflexionen zu vermindern, also den Lichteinfall auf die solar aktive Fläche zu erhöhen. Circa ein Prozent des Lichtes wird innerhalb des Glases absorbiert und reflektiert. Der Anteil des reflektierten Lichtes vermindert sich, je senkrechter es auf die Modulebene fällt. In den Mittagsstunden, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, ist der reflektierte Anteil geringer als vier Prozent und tendiert gegen Null. Lichtreflexionen können nur zu Zeiten direkter Sonneneinsstrahlung stattfinden. Um die Blendwirkungen auf die südöstlich stehenden Wohnhäuser abzuschätzen, berechneten die Solarpraxis-Ingenieure deshalb den Tages- und Jahresverlauf der Sonne mit einem Bezugspunkt in der Mitte der PV-Anlage. In der Zeit von etwa März bis Sep tember scheint die Sonne normalerweise eine Stunde morgens und abends auf die Hausfenster. Zuerst erscheint das Licht auf den Fenstern im oberen Stockwerk und wandert mit der Zeit über die unteren Fenster. Der Zeitpunkt ändert sich im Jahresverlauf. „Dieses Licht, das nur ein Bruchteil des Sonnenlichtes ist, wird wiederum durch die an den Fensterflächen des Wohngebäudes auftretende Lichtreflexion gemindert. Der Teil des Lichtes, der in die Wohnräume gelangt, ist abhängig vom verwendeten Glas der Fenster“, erklärt die Ingenieurin Eva Schubert. In Neubaugebieten gängige doppelt verglaste Isolierfenster lassen längst nicht alles Licht durch. Sie reflektieren etwa 15 Prozent der Sonnenstrahlen – beinahe viermal so viel wie die vorgesehenen Module. „Die durch die Photovoltaikanlage entstehende Blendung wird immer geringer ausfallen als eine Blendwirkung, wie sie überall in bewohnten Gebieten durch Gebäudefenster entsteht“, resümieren die Gutachter. Dem zusätzlichen Sonnenlicht, das die PV-Anlage in die benachbarten Wohnhäuser reflektiert, gewinnt Schubert eher positives ab. „Dadurch können dunkle Nordzimmer aufgehellt werden“. Wenn dies nicht erwünscht sei, könne eine Sichtschutzhecke angepflanzt werden – was ja mittlerweile vorgesehen ist.

Erdmagnetfeld strahlt stärker

Auch der Einwand einer störenden oder gar gefährlichen elektromagnetischen Strahlung durch die Solarwand lässt sich nicht halten. Als mögliche Verursacher von Elektrosmog nennen die Gutachter die Module, Verbindungsleitungen und Wechselrichter. Die PV-Module erzeugen bei Sonnenschein eine Gleichspannung und damit magnetische Gleichfelder. „Bei einem einzigen PV-Modul ist die elektrische Feldstärke so gering, dass sie sich im Abstand von einigen Zentimetern schon nicht mehr nachweisen lässt“, erläutert Kusche. „Auch wenn mehrere Module zu einem Generator zusammengeschaltet werden, sind die elektrischen Feldstärken schon bei etwa 50 Zentimeter Abstand deutlich kleiner als das natürliche Magnetfeld der Erde, das zwischen 30 und 60 Mikrotesla liegt.“

Bei den Verbindungsleitungen zwischen PV-Generator und Wechselrichter treten ebenfalls magnetische Gleichfelder auf. Um diese möglichst gering zu halten, empfehlen die Berliner Experten die beiden Plus- und Minus-Leitungen dicht nebeneinander zu verlegen beziehungsweise miteinander zu verdrillen. Dadurch heben sich die Magnetfelder der beiden Leitungen gegenseitig weitestgehend auf. „Selbst in zehn Zentimetern Abstand beträgt die von einer PV-Anlage mit drei Kilowatt erzeugte Flussdichte nur 2,7 Mikrotesla, in ein Meter Abstand gar nur 0,03 Mikrotesla, ein Bruchteil des natürlichen Erdmagnetfelds“, stellt Kusche fest. Da die geplante Anlage in Bürstadt aus mehren Teilgeneratoren mit je drei Kilowatt bestehe, seien die vom Solarenergie-Förderverein Deutschland erhobenen Messwerte exemplarisch herangezogen worden.

Bleiben die Wechselrichter, die den vom PV-Generator erzeugten Gleichstrom in Wechselstrom umwandeln. Hierbei werden lediglich niederfrequente Wechselfelder erzeugt, keine hochfrequenten. Der eingesetzte Wechselrichter arbeitet mit einem 50-Hertz-Transformator, der die Spannung auf 230 Volt umwandelt und über einen dreiphasigen Netzanschluss einspeist. „Bei Betrieb kann die Wechselrichterelektronik einen Oberwellenanteil in der eingespeisten Wechselspannung erzeugen, ähnlich wie elektrische Geräte, die über Phasenschnittsteuerung geregelt werden, beispielsweise Bohrmaschinen oder Lampen“, so die Einschätzung derIngenieure. Die Einspeiseleitungen zwischen Wechselrichter und öffentlichem Stromnetz verhielten sich deshalb wie die Standardstromkabel für haushaltsübliche Großgeräte. Die Feldstärkeemissionen von PV-Anlagen sind allerdings gering und liegen um Klassen unter dem Grenzwert der 26. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes in Höhe von 5.000 Volt pro Meter in zehn Metern Abstand. Bereits bei einem Abstand von zehn Zentimetern unterschreitet ein Wechselrichter mit einem 50-Hertz-Trafo den baubiologisch empfohlenen Wert von 20 Volt pro Meter. In 30 Zentimetern Abstand erzeugt er eine Feldstärke von elf Volt pro Meter (V/m) und in 50 Zentimeter Abstand vier V/m. Eine Telefonanlage mit Router liegt mit 100 V/m in zehn Zentimetern Abstand und 338 V/m in 30 Zentimetern Abstand deutlich darüber. „Eine Beeinträchtigung der Anwohner durch Elektrosmog der geplanten PV-Anlage kann nach heutigem Erkenntnisstand ausgeschlossen werden“, sagt Kusche.

Wärme geht vor allem nach oben

Wie sieht es mit einer möglichen Beeinträchtigung der Anwohner durch Wärmestrahlung der Solarwand aus? Eine mögliche Quelle sind die Wechselrichter. Sie erwärmen sich im Betrieb. „Da dies der Effizienz schadet, sind Wechselrichterhersteller jedoch bemüht, die auftretenden Wandlungsverluste durch Erwärmung möglichst gering zu halten“, erläutern die Gutachter. So besitzt der verwendete SMA 3000 eine Passivkühlung mittels Kühlrippen. Bei einer maximalen Erwärmung von 60 Grad Celsius wird er automatisch abgeschaltet. „Da der Wechselrichter hinter den PV-Modulen in einer Höhe von 3,50 Meter montiert werden soll, kann eine Gefährdung durch Berüh rung der Kühlrippen weitestgehend ausgeschlossen werden“, betont Kusche.

Die PV-Module erwärmen sich durch die Elektronenbewegungen, also den Stromfluss, sowie durch die Sonneneinstrahlung. „Wie die Praxis zeigt, liegt die Temperatur der Module bei etwa 70 Grad“, sagt der Ingenieur. Welche Auswirkungen hat also die von der Gesamtanlage ausgehende Wärmestrahlung auf einen in 15 Meter Abstand stehenden Menschen? Im ungünstigsten Fall, wenn die Module 70 Grad warm sind und gleichzeitig Windstille herrscht, wirkt eine zusätzliche Wärmestrahlung von etwa 90 Watt, rechnen die Gutachter vor. Dieser Wert ist vergleichbar mit der Wärmeleistung einer Fußbodenheizung im Winter und liegt unter der Wärmestrahlung einer 100 Watt Glühbirne. „Die Wärmeempfindung ist stark subjektiv. Deswegen bleibt offen, ob die 90 Watt pro Quadratmeter auf eine Person spürbar wirken, zumal in dem angenommenen Fall die Außentemperatur bereits sehr hoch wäre“, sagt Kusche. Zudem strahlten die Module der geplanten Solarwand durch ihren Aufstellwinkel von 72 Grad die Wärme überwiegend nach oben ab, was den Effekt weiter mindert. Bleibt eine Gefährdung durch eine direkte Berührung der erwärmten Solarstrommodule. „Dies ist durch deren Aufbau ab einer Höhe von 1,88 Meter weitgehend ausgeschlossen“, stellen die Berliner Ingenieure weiter fest. Im Übrigen sei die maximale Modultemperatur nicht höher als das aufgeheizte Lenkrad eines für 30 Minuten geparkten Pkw im Sommer.

Fakten nicht gefragt

„Das Gutachten wurde von den Anwohnern zur Kenntnis genommen, doch übermäßiges Interesse war nicht vorhanden“, sagt der Umweltbeauftragte Jost. Große Fakten waren auch bei der zweiten Anwohnerversammlung Ende Februar im Bürstadter Bürgerhaus nicht gefragt. „Das interessiert uns alles nicht. Wir wollen das Ding überhaupt nicht da haben“, hieß es von Seiten der Gegner. Grund für die Versammlung war die Änderung des Bebauungsplans: Um die geplante Solarwand rechtlich abzusichern, soll nun ein drei Meter breites Sondergebiet für regenerative Energien ausgewiesen werden. Denn in dem Umfang werde die PV-Anlage als gewerbliche Nutzung angesehen. Damit folge die Stadt der Empfehlung eines Fachanwaltes, sagt Jost. Wortführer der Kritiker war erneut Ortslandwirt Schöcker. Nun lautete seine Lieblingswaffe im Kampf gegen das Projekt der Betrugsvorwurf: Die PV-Anlage entlang der Lärmschutzwand sei von Anfang an geplant gewesen. Doch das habe die stadteigene Bauland GmbH den Grundstückskäufern nicht gesagt, um sich die Preise nicht kaputt zu machen. „Wir sind alle vergackert worden“, schimpfte Schöckers Frau Erna, die im Streit um die Solarwand den Vorsitz des kommunalen Umweltausschusses verloren hatte. Bürgermeister Haag räumte ein, dass die Idee des Bürstädter Solaraktivisten Erhard Renz für die Verkleidung der Lärmschutzwand mit PV-Modulen schon relativ früh bekannt gewesen sei. Doch das seien nur Gedankenspiele gewesen. „Sobald die Sache konkreter wurde, haben wir die Bürger informiert“, meinte er. Zur Demonstration sei dann ja auch ein Modellmodul an der Lärmschutzwand aufgestellt worden.

Interesse an Beteiligung

Während etwa ein Dutzend direkter Anlieger weiterhin Sturm gegen das Vorhaben läuft, melden sich mittlerweile mehr und mehr Besitzer weiter zurückliegender Grundstücke des Neubaugebietes, die sich an dem Projekt beteiligen wollten. Denn die Solarwand ist als Beteiligungsanlage geplant. Investor ist die Firma Solar Art aus dem benachbarten Lauda-Königshofen. Weil sie als Fassade gilt, lockt für die Anlage eine besonders attraktive Einspeisevergütung.

Bürstadts Verwaltungsspitze setzt jedenfalls auf den baldigen Bau, „mit einstimmiger Unterstützung des Gemeinderats“, wie Jost betont. Was noch ausstehe sei ein formaljuristischer Beschluss der Stadtverordnetenversammlung über die Satzung des vorgesehenen Sondergebiets für regenerative Energien. Auch die Kreisbauverwaltung müsse dem Bebauungsplan noch zustimmen. Der harte Kern der Gegner möchte allerdings bisher nicht klein beigeben. Sie kündigten eine Normenkontrollverfahren vor dem Verwaltungsgericht Kassel an. „Wir haben uns sehr bemüht bei diesem Projekt die Sorgen und Ängste der Bürger ernst zu nehmen“, sagt Jost. „Wir stehen nun kurz vor der Ziellinie und sind überzeugt, dass die Kommune dieses außergewöhnliche Vorhaben auch baurechtlich korrekt abgewickelt hat.“

HN

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