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Inseln für den Strom

Europa, 4. November 2006. In der Netzleitstelle von Eon schalten die Mitarbeiter eine Überland-Stromleitung ab. Eine knappe halbe Stunde später ist das verbliebene Netz überlastet, schaltet sich ab –Westeuropa versinkt in Dunkelheit.

Ein Lichtpunkt leuchtet jedoch weiter: Duisburg. Seine Bürger essen, trinken, sehen fern wie bisher. Denn die Rheinstadt hat genug Kraftwerke, um sich selbst zu versorgen – und Mitarbeiter, die rund um die Uhr aufpassen. Als sie feststellen, dass das Netz kippt, bringen sie blitzschnell ihre Kraftwerke auf Touren.

Solche Strominseln sollen im Notfall künftig automatisch entstehen und sich mit Hilfe von Photovoltaik, Windenergie, Kraft-Wärme-Kopplung sowie Energiespeichern und intelligenten Verbrauchssteuerungen autark versorgen. Das hoffen zum einen die Netzbetreiber: „Wir versprechen uns von lokalen Netzen größere Versorgungssicherheit, wenn der Strom ausfällt“, sagt zum Beispiel Antje Orths, Wissenschaftlerin bei Energinet.dk, dem Dänischen Netzbetreiber. Aber auch Energieversorger und Forscher verbinden mit der Verteilung der Stromerzeuger die Hoffnung auf größere Versorgungssicherheit.

Intelligentes Netz

Jürgen Schmid vom Institut für Solare Energieversorgungstechnik ISET in Kassel hofft gar, das Stromnetz mit Datenleitungen und Computern so verweben zu können, dass sich die Intelligenz über das ganze Stromnetz ausbreitet: „Wir werden erleben, dass diese beiden Netze, das Stromnetz und das Kommunikationsnetz, zusammenwachsen.“

Eine Modernisierung hat das Stromnetz auch bitter nötig. „Es ist unruhig geworden“, sagt Wolfgang Glaunsinger, Leiter der Energietechnischen Gesellschaft im Verband der Elektrotechnik (VDE). Denn: „Das System war ursprünglich lastnah ausgelegt: die Kraftwerke standen da, wo der Strom gebraucht wurde, nur 50, 70 Kilometer vom Verbraucher entfernt.“

Heute jedoch handeln Konzerne Strom über hunderte von Kilometern. Sie kaufen Strom zum Beispiel in Holland und verkaufen ihn in Tschechien. Die Kraftwerke pumpen ihre Energie in die Stromautobahnen – das sind die Höchstspannungsleitungen mit 380 oder 220 Kilovolt Spannung. Die leiten ihn zum Nutzer. „Dabei verteilt er sich jedoch auf unvorhersehbare Weise“, erklärt Glaunsinger. Das kann zu überraschenden Leistungsspitzen und Ausfällen führen.

Gleichzeitig mit dem Stromhandel begann die Einspeisung von Wind- und Sonnenstrom auf dieser mittleren Spannungsebene. Die ist eigentlich eine Einbahnstraße, Rückfluss ist nicht vorgesehen. Heute müssen die Kabel jedoch Stromfluss in beide Richtungen verkraften. „Passiert nichts, werden wir künftig mehr Stromausfälle erleben“, ist Glaunsinger überzeugt.

Das will Christof Wittwer vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE vermeiden: „Wir hatten ursprünglich die Vision, dass man mit verteilten Erzeugern – vor allem regenerativen – nennenswerte Beiträge zur Versorgung liefern kann“, sagt der Ingenieur, „man kann damit sogar eine dezentrale Energieversorgung aufbauen.“

Aus der Idee entstand im Rahmen des EU-Projektes Dispower das Konzept für eine autarke Energieversorgung der Siedlung „Am Steinweg“ im süddeutschen Stutensee– ein Smart-Grid, bei dem die Erzeuger intelligent vernetzt sind. Wärme und Strom erhalten die 101 Wohnungen der Siedlung von einem Blockheizkraftwerk (BHKW); zusätzlichen Strom liefert Photovoltaik auf dem Parkhaus und den Häusern.

Das Problem ist jedoch: Die Solarzellen erzeugen unabhängig vom Bedarf Strom – bei strahlender Sonne kann mehr Strom anfallen, als gebraucht wird. Der Strom müsste abgeleitet werden. Das BHKW erzeugt dagegen nur dann Strom, wenn die Bewohner nach Wärme verlangen –üblicherweise im Winter oder den Morgenstunden. Abends fällt der Solarstrom aus – weil aber alle zu Hause sind, klettert der Verbrauch. Dann müsste die Siedlung Strom aus dem Netz beziehen – über den Anschlusstrafo würde ständig Strom hin- und hergeschoben. Für Energieversorger keine angenehme Vorstellung – und technisch eine Belastung fürs System.

„Unsere Aufgabe war es, diesen Netzbetrieb vor Ort zu optimieren“, erzählt Wittwer: „Wenn die Photovoltaik-Anlage Strom liefert, dann sollte der auch vor Ort verbraucht werden.“ Der Ingenieur und seine Kollegen haben daher in das Netz vor Ort noch eine Batterie installiert und die Steuerung einem Computer anvertraut: Fällt mehr Strom an als verbraucht, lässt der Rechner die Batterie nachladen; übersteigt der Bedarf den Verbrauch, liefert die Batterie zusätzlichen Strom.

„Damit BHKW, Solarzellen, Batterie und Verbrauch optimal zusammenspielen, brauchten wir erst einmal Prognosen“, erklärt Wittwer. Sonnenscheindauer und Temperatur geben dem System eine Grundlage, um die mögliche Energieerzeugung vorherzusagen; Temperatur und Wochentag einen Hinweis auf den Stromverbrauch. Aus diesen „Lastprognosen“ berechnet der Computer „das Sollverhalten des Netzes am nächsten Tag“. Sprich: Es erstellt einen Fahrplan für alle Generatoren – Batterie, BHKW und Solarzellen –, der den Einsatz für die nächsten 24 Stunden regelt.

„Unsere Erfahrungen waren eigentlich sehr gut“, sagt Christof Wittwer über die ersten Monate im Einsatz. Noch besser wäre es, wenn nicht nur die Erzeugung, sondern auch der Verbrauch in die Steuerung des Netzes einbezogen werden könnte.

Forscher hausen in Baracke

Genau das testen Hendrik Bindner und Oliver Gehrke vom Energieforschungszentrum Risø bei Kopenhagen. Die beiden Wissenschaftler haben vor einem Jahr das Syslab in Betrieb genommen, ein Smart-Grid, bei dem auch Heizungen und Kühlschränke an der Stabilität des Stromnetzes aktiv mitarbeiten. Dafür haben die Forscher sogar ihre Büros verlassen und sind in eine alte Bürobaracke gezogen, erzählt Oliver Gehrke: „Das ist das einzige Haus in Risø, das nicht an einer Fernwärmeleitung hängt. Es hat stattdessen eine Stromheizung.“ Das macht es für die Forscher ideal: Auch die Stromheizung hilft, das Netz stabil zu halten.

In jedem der acht Büroräume ist ein kleiner Kontroll-Bildschirm installiert. „Mit seiner Hilfe können die Benutzer der Büros ein flexibles Profil bestimmen“, erklärt der Energieforscher. Zum Beispiel für die Heizung: Soll die 20 Grad halten, könnte der Benutzer ihr einen Spielraum von 19 bis 21 Grad geben. Wird mehr Strom erzeugt als verbraucht, könnte das intelligente Netz dann die Büros etwas mehr heizen. Und umgekehrt die Räume etwas auskühlen lassen, wenn Strom fehlt.

Ähnliches gilt für die anderen Verbraucher auch. Die Wissenschaftler haben alle Räume mit Sensoren gepflastert und alle elektrischen Verbraucher mit Fernsteuerungen versehen, die vom Stromnetz kontrolliert werden. Der Kühlschrank zum Beispiel: Steht viel Energie zur Verfügung, senkt er die Temperatur stärker ab als eigentlich nötig. Wird der Strom aber knapp, kann der Kühlschrank sich vorübergehend abschalten – die Kälte sozusagen speichern. „Virtuelle Speicher“ nennen die Wissenschaftler das – „weil man den Strom nur hineinstecken, aber nicht wieder herausbekommen kann“. Selbst ein Hybridauto gehört zum Experiment: Im Stand ist dessen Batterie ans Netz angeschlossen; der Fahrer kann Syslab zum Beispiel erlauben, den Akku von Mitternacht bis sechs Uhr zu nutzen, um Stromschwankungen auszugleichen. Allerdings muss das intelligente Netz dafür sorgen, dass die Batterie am Morgen geladen ist.

Den Strom erzeugen Solarzellen, zwei Windräder und ein Dieselgenerator – für den Notfall. Außerdem haben die Forscher eine Reddox-Flow-Batterie installiert – in einem historischen Gebäude, „der Halle des ersten dänischen Atomreaktors“, erzählt Gehrke.

Kraftwerke überflüssig

In einer sechseckigen kleine Halle laufen die Fäden zusammen: Hier stehen die Schaltschränke, die Herzen von Syslab. Sie kombinieren die Erzeuger, steuern die Verbraucher. Allerdings nicht allein: „Wir haben versucht, das Computernetz so weit wie möglich auszudehnen“, erklärt Hendrik Bindner. „Die Idee ist, dass wir keinen Zentralrechner haben wollen, der das Stromnetz kontrolliert, sondern mehrere Knoten, die in einer ständigen Kommunikation den Stromfluss überwachen, sich im Notfall sogar noch trennen und wieder zusammenfügen können.“

Im kommenden Jahrzehnt – das hoffen Wissenschaftler wie Energieversorger – werden die Forscher so weit sein, dass die ersten Smart-Grids tatsächlich eingerichtet werden können. Das Bundeswirtschaftsministerium ist überzeugt, dank der geschickten Kombination von Kraftwerken und Waschmaschinen sogar Kraftwerke einsparen zu können – wodurch weniger Kohlendioxyd in die Luft geblasen würde.

Und für den Kunden würden Stromausfälle unter Umständen noch seltener, sagt Antje Orths von Energinet.dk, weil sich „die lokalen Netze dann abklemmen können, eine Zeitlang selbst versorgen, und der Verbraucher merkt nichts“. Ein entschlossenes Eingreifen von Menschen wie in Duisburg wäre dann nicht mehr notwendig.

Sönke Gäthke

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