Ohne die Agora, den Marktplatz, ging im alten Griechenland nichts. Sie war der wichtigste Platz am Ort. Dort haben die Griechen miteinander gehandelt, diskutiert, gefeiert und gerichtet. Agoren wurden zu Institutionen und gelten als die Wiege der antiken Demokratie.
Das Bild von der Agora wird auch in der Neuzeit immer wieder gern aufgegriffen, versinnbildlicht es doch den Prozess der Entscheidungsfindung nach einem intensiven Diskurs. Wie der Weg ins Zeitalter der Erneuerbaren aussieht, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Wieder bedarf es des diskursiven Dialogs. Bei der neuzeitlichen Meinungsbildung soll die Agora Energiewende helfen. „Die Stiftungswelt hat sich 2009 gefragt, ob sie nicht noch intensiver in den Bereich Politik gehen kann“, erinnert sich Lars Waldmann, einer der Projektleiter. Und so seien die Stifter auf die Energiewende gekommen, eine der größten, wenn nicht die größte Umwälzung in der jetzigen Zeit.
Das Ziel ist klar. Die Energiewende ist beschlossen, und niemand zweifelt ernsthaft an ihrem Sinn. Die Diskussionen und Widerstände fangen da an, wo es um die Machbarkeit geht, um die Kosten und um handfeste wirtschaftliche Interessen einzelner Gruppen. Deshalb steht nicht das Ob, sondern das Wie im Mittelpunkt der Arbeit. Dazu hat das Agora-Team zwölf Thesen erarbeitet. Diese sollen nun breit diskutiert werden von all denen, die an der Energiewende beteiligt sind. Die Hauptthese lautet: „Im Mittelpunkt stehen Wind und Solar.“ In den weiteren Thesen wird dann ausgeführt, in welche Richtung sich das Energiesystem und der Energiemarkt verändern müssen.
Illustre Gesellschaft
Finanziert ist die Agora Energiewende zunächst für fünf Jahre. Dazu stehen zwölf Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld kommt zu einem Teil von der Stiftung Mercator. Dahinter steht die Stifterfamilie Schmidt aus Duisburg. Karl Schmidt ist Mitbegründer des Metro-Handelskonzerns und hat für die Mercator-Stiftung einen erheblichen Teil seines Vermögens bereitgestellt. Die Stiftung verfügt gegenwärtig über ein Vermögen von über 100 Millionen Euro. Der zweite Geldgeber ist die European Climate Foundation (EFC). Sie wurde 2008 von mehreren Stiftungen aus Großbritannien und den USA gegründet. Dahinter stehen unter anderem die William and Flora Hewlett Foundation aus den USA. Erklärtes Ziel der EFC ist es, ihre Ressourcen effektiv für mehr Klimaschutz in Europa einzusetzen.
Die Agora Energiewende nahm im April 2012 in Berlin ihre Arbeit auf. Der frühere Staatssekretär und bisherige Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe Rainer Baake steht ihr als Direktor vor. Der Rat der Agora ist mit 28 Mitgliedern ganz unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Herkunft besetzt. Da sitzen Bundes- und Landespolitiker von CDU, SPD, Grünen und FDP, Unternehmens- und Gewerkschaftsvertreter, die Präsidenten von Bundesnetzagentur und Umweltbundesamt, Energiemanager wie Verbraucherschützer, Vertreter von stromintensiven Unternehmen genauso wie die der Erneuerbaren.
Als Fachleute für Energiepolitik bringen die neun Mitglieder des Arbeitsstabs Erfahrungen aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Verwaltung mit.
Sie analysieren die energiepolitische Debatte und steuern die wissenschaftliche Arbeit der Agora Energiewende. Außerdem sorgen sie für eine optimale Vorbereitung der Diskussionen im Rat der Agora. Dafür suchen sie zunächst nach bereits existierenden Informationen und prüfen deren Validität und Transparenz. Dann gehen sie auf die Urheber zu: Forschungseinrichtungen und Verbände. „Alle Fraunhofer-Institute, die Helmholtz-Gesellschaft genauso wie der Forschungsverbund Erneuerbare Energien,
Verbände vom BEE, BDEW bis BDI, um mit ihnen in den Dialog zu treten“, erklärt Waldmann und verdeutlicht, wie die Bestandsaufnahme aussieht im Hinblick auf das Ziel, 2020 mindestens 40 Prozent Strom aus Erneuerbaren im Netz zu haben. „Ist der gesetzliche Rahmen geeignet dafür? Nein. Sind die Marktvoraussetzungen mit der Merit-Order-Struktur dafür geeignet? Nein. Haben wir eigentlich das Netz, das wir dafür brauchen? Zum Teil. Da müssen wir was tun. Haben wir die Technologien, die wir brauchen? Ja, zum Glück. Wie sehen die Kosten aus, wie muss man die verteilen, kann man die einer Bevölkerungsschicht aufoktroyieren oder kann man die gerechter verteilen? Das sind alles Dinge, die wir uns ansehen, die wir dann diskutieren, wo wir versuchen, Lösungspfade herauszuarbeiten. Und die zwölf Thesen, die wir aufgestellt haben, wollen wir jetzt diskutieren.“ Das Resultat der Arbeit bis 2017 oder darüber hinaus sollen keine neuen Dokumente sein, sondern Bedingungen, die das ehrgeizige Gesamtziel ermöglichen. Das klingt großartig. Wie es von einem zehnköpfigen Team zu bewerkstelligen ist und wie dessen Leistung konkret nachweisbar ist, bleibt hingegen offen.
Zunehmend dezentral
Hans-Josef Fell, energiepolitischer Sprecher in der Bundestagsfraktion der Grünen und Vater des EEG, lobt die Agora Energiewende und betont ihre Bedeutung. „Die entscheidende Aussage ist ja schon in der These eins formuliert, wo es heißt, Wind und Solarenergie werden die tragenden Säulen sein. Das deckt sich vollständig mit unseren Vorstellungen und Überlegungen. Und diesem Hauptanteil der künftigen Stromversorgung müssen sich die anderen Energieerzeuger natürlich ein Stück weit anpassen.“ Dass Grundlastkraftwerke nicht mehr benötigt werden, decke sich ebenso mit den Aussagen der Grünen. „Die Thesen enthalten zwar jetzt nichts überraschend Neues, aber sie sind sehr gut aufgemacht und damit einem breiteren Publikum zugänglich.“ Bei den Marktmechanismen findet Fell die Thesen etwas vage. Das seien eher Zielvorstellungen. Und er vermisst hier die Herausstellung von dezentraler Energie und die Genossenschaftsebene. „Betreibergemeinschaftsmodelle zum Beispiel: Das kommt mir etwas zu kurz. Denn das ist ja im Moment die tragende Säule für den Ausbau der Erneuerbaren. Die hohe Geschwindigkeit kommt vor allem aus dieser Richtung. Viele Genossenschaften, Dörfer und Kleinstädte haben den Wunsch, weitgehend energieautark zu werden. Das sollte stärker beachtet und in die Thesen zum Energiewendemarkt integriert werden.“ Vielleicht wird die Agora ja auch in dieser Beziehung ihrem Namen noch gerecht. Bei den alten Griechen hat es Jahrhunderte gedauert, bis sich aus einfachen Handelsplätzen außerhalb der Siedlungen demokratische Institutionen im Zentrum der Gemeinschaften herausgebildet hatten. So viel Zeit hat die Agora Energiewende allerdings nicht. Sie wurde in einer Phase enormer Umwälzungen gegründet und soll diesen Prozess auch noch beschleunigen.
www.agora-energiewende.de
Der Pfadfinder
Interview: Lars Waldmann ist Projektleiter im Arbeitsstab der Agora Energiewende. Zuvor hatte er unterschiedliche Führungspositionen in den Bereichen Vertrieb, Marketing, Kommunikation und Unternehmensstrategie in der Photovoltaikindustrie inne, unter anderem bei Schott Solar und Q-Cells. Waldmann arbeitet seit 2004 in zahlreichen Arbeitsgruppen von Industrie- und Solarverbänden mit. Mit dem Agora-Team hat er zwölf Thesen zur Energiewende erarbeitet. Diese werden sicher noch für Diskussionsstoff sorgen, und das ist auch so gewollt.
Was an Ihren zwölf Thesen ist eigentlich wirklich neu?
Vieles, was wir hier zusammengetragen haben, existierte schon. Wir konnten es zum Teil aber noch konkretisieren. Wir haben im Vorfeld zu diesem Thesenpapier eine Expertenrunde veranstaltet. Dazu haben wir eine Gruppe von Ratgebern zusammengestellt, die auch das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium beraten. Mit denen sind wir das hinter verschlossenen Türen so lange durchgegangen, bis jeder alles verstanden und komplett durchdrungen hatte. Und das hilft. Jeder hat so seine Perspektive darauf. Wenn aber dann unterschiedliche Perspektiven der gleichen Sache diskutiert werden, entsteht eigentlich der richtige Streit. Nämlich um die Details. Und die Frage, wann ist welches Detail relevant, wann muss ich es weiter diskutieren oder wann ist ein Detail nur ein Popanz, der in der Öffentlichkeit hochgespielt wird, um eine Scheindebatte aufzubauen, die von der eigentlichen Debatte ablenken möchte, das haben wir sehr schön herausarbeiten können. Insofern ist da auch viel Neues drin, aber am Ende ist das alles schon mal gedacht.
Was ist momentan die größte Schein- und Ablenkdiskussion?
Ich denke, die Kosten- und Preisdebatte. Das Quotenmodell, wie es Philipp Rösler nach wie vor fordert, das ist so eine Scheindebatte. Niemand in der FDP, in der Union oder Opposition hält dieses Modell für umsetzbar, und man kann sich auch ernsthaft fragen, ob es ökonomisch sinnvoll ist. Am Ende muss man sich auch fragen, ob es überhaupt ein marktwirtschaftliches Modell wäre, wenn man ein solches Mengenmodell einsetzt. Wir nehmen den konventionellen Energieerzeugern Kuchen weg. Jeden Tag ein richtig dickes Stückchen. Und mittlerweile sind es eben 25 Prozent. Für die nächsten Jahre sind nochmals 25 Prozent geplant. Wenn ich jetzt ein Geschäft betreibe und mir sagt jemand: „Pass auf, ich habe dir schon ein Viertel weggenommen, und in den nächsten zehn Jahren nehme ich dir nochmals ein Viertel weg“, dann würde ich natürlich auch erst einmal auf die Barrikaden gehen und schauen, was ich dagegensetzen kann. Langsam hat man jedoch verstanden, dass dem nicht viel entgegenzusetzen ist. Die Betroffenen müssen sich in diesem Gefüge einen neuen Platz suchen. Da sind die Energiekonzerne gerade dabei. Und wir laden sie ein mitzudiskutieren, in welchen Formen sie sich in die Energiewende einbringen können.
Kohlekraftwerke als Teillastkraftwerke: Taugt ein Kohlekraftwerk mit seiner Technologie überhaupt dazu?
Das genau ist so eine der konkreten Fragen, die wir im Moment diskutieren, wo wir auch wirklich in den Kraftwerksbetrieb hineingehen, wo wir uns die Hochlaufzeiten ansehen, die gefahren werden können, wo wir uns Gradienten ansehen, in denen Last und Erzeugung in den Netzen schwanken. Es kann 800 Megawatt pro Viertelstunde rauf und runter gehen. Und dann fährt unter Umständen auch noch so ein schöner Schäfchenhimmel über einen Park von Solaranlagen. Da fängt das Netz zu flimmern an. Das muss stabilisiert werden. Aber Kohlekraftwerke können eine ganze Menge mehr, als wir ihnen bisher abgefordert haben. Braunkohle ist da problematisch. Die besteht zu etwa 70 Prozent aus Wasser, die muss erst getrocknet werden. Aber auch hier ist jetzt mittlerweile ein Prozess entwickelt worden, in dem man thermische Speicher installiert, die dann Energie zum Trocknen vorhalten, so dass der Startmechanismus im Kessel schneller vonstatten gehen und man die Leistung schneller hochfahren kann.
Dennoch können diese nicht schnell genug auf Fluktuationen von Sonnen- und Windstrom reagieren, die so stark sein können, dass sie gar ein Flimmern im Netz verursachen.
Sie haben vollkommen recht. Das kann nicht ein einzelnes Kraftwerk. Aber ein Kraftwerkspark, der so ausgestattet ist, dass er verschiedene Gradienten fahren kann, der kann das. Das Ganze muss man gestaffelt machen. Kondensatoren als kapazitive Speicher und Gasturbinen als Spitzenlastkraftwerkereagieren relativ schnell. Wir wollen auch, dass die Biomasse ihre Flexibilität in das System mit einbringt. Zum Teil kann man auch Pumpspeicher mit reinnehmen, um die Reaktionszeit zu verkürzen. Das wird auch sicherlich eine der Netzdienstleistungen für mittelgroße Redox-Flow-Speicherbatterien sein.
Das ist übrigens ein ganz spannender Punkt: Bisher speichert der Netzbetreiber nicht. Das hat mit der strengen gesetzlichen Trennung zwischen Erzeuger, Netzbetreiber und Verbraucher zu tun. Aber er hat eine Dienstleistungsfunktion, und die muss auch übers Gesetz ermöglicht werden. Dazu kommt noch das Management auf der Nachfrageseite, wo man sowohl Last als auch fluktuierende Erzeugung ein Stück weit anpasst.
Saß beim Erarbeiten der Thesen vielleicht jemand mit am Tisch, der gern Netze baut? Für mich sieht dezentrale Energieerzeugung anders aus. In Ihren Thesen vertreten Sie ein sehr zentralistisches Modell.
Ich denke, dass der Eindruck täuscht. Die Dezentralität werden wir in den Regionen in den Verteilnetzen haben. Und die sind so vernetzt, dass der dezentrale Bereich genau da stattfindet. Auf der anderen Seite haben wir ja auch Ballungszentren, die mit Energie versorgt werden müssen, und wir wissen auch, dass die großen Kraftwerke in Form von Solarparks sich außerhalb dieser Zentren befinden. Und da brauche ich dann die Mittelspannungsebene noch mit dazu. Und hier benötige ich dann schon verschiedene Netzfunktionen. Es geht nicht nur darum, Netze auszubauen, sondern auch darum, sie intelligenter zu machen, mehr Messeinrichtungen in die Netze zu holen und Planungssicherheit in Form von Erzeugungsprognosen einzuholen.
Es ist von globalen Netzen über ganz Europa die Rede. Das hat seinen Preis. Finanziell und auch für die Landschaft.
Wichtig ist, dass wir eine Versorgung mit 100 Prozent erneuerbaren Energien nur schaffen, wenn wir starke Netze haben. Denn am effizientesten ist eine Kilowattstunde dann, wenn sie direkt verbraucht wird. Erst wenn der Speicher kommt, wird sie wirklich teuer. Wenn wir in Gesamteuropa über 70 Prozent Erneuerbare haben, brauchen wir Transportkapazität. Wenn Wind durch Europa weht, gibt es auch Standorte, wo kein Wind weht. Und es ist immer noch die kostengünstigere Variante, ein Kabel von A nach B zu spannen, um den Strom in Echtzeit zu verwenden, als ihn zu speichern.
Je relevanter die Ergebnisse Ihrer Arbeit werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass Interessengruppen versuchen, auf die Resultate Einfluss zu nehmen. Wie sichern Sie sich dagegen ab?
Wir haben da einen sehr weitreichenden Qualitätssicherungsprozess. Wir laden immer kontrovers diskutierende Wissenschaftler ein. Wir sagen ja nicht, wir haben die Lösung, sondern wir wollen die Fragen richtig stellen. Wenn wir diese so lange diskutiert haben, bis man zumindest in irgendeiner Form einen Konsens gefunden hat, dann erarbeiten wir als Team das als Grundlage und diskutieren es noch einmal im Team. Wir sind auch nicht ganz homogen aufgestellt. Dann wird der Rat sozusagen als Resonanzboden verwendet, um zu sehen, ob diese Thesen zu einseitig oder zu kritisch sind. Anschließend lassen unsere Stifter nochmals andere Wissenschaftler darauf sehen, vielleicht auch mit einer fachfremden Sichtweise. Erst dann geben wir es der Öffentlichkeit zur Diskussion.
Bei Diskussionen kann ich mir das noch vorstellen. Bei kontroversen Studien wird es doch schon schwieriger.
Sie haben immer die Möglichkeit, eine Summe von Studien zu verwenden, um sich ein möglichst breites Bild zu machen. Interessant sind jeweils die Ursprünge der Studien, um zu sehen: Wo haben denn die Wissenschaftler ihre Zahlen her? Sie kommen dann immer wieder auf ein Bündel von Grunddaten, und das hat wieder einen Ursprung: einen Wissenschaftler oder ein Institut. Da gehen wir an die Quelle und diskutieren mit den Urhebern. Und wir fragen, ob sich nicht in den letzten zehn, vier oder drei Jahren etwas an der Sache getan hat. Dann geben wir entsprechende Forschungsaufträge heraus an Wissenschaftler, die den Ruf haben, neutral zu sein, um da auch eine entsprechende Gewichtung hereinzubekommen.
Wie wollen Sie während und am Ende ihrer fünfjährigen Tätigkeit wahrgenommen werden?
Der Begriff Resonanzboden gefällt mir ganz gut. Weil ein Resonanzboden nie selbst aktiv ist, aber ein Schallverstärker, der bestimmte Schwingungen herausfiltert aus dem Gewirr an Frequenzen und diese dann verstärkt. Dieser Resonanzboden für die Energiewende wollen wir sein.
Gibt es auch Kritiker Ihrer Arbeit, die ihre Interessen dadurch bedroht sehen?
Noch nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit oder uns gegenüber. Wir haben auch keine Scheu gehabt, uns die Argumente der Neuen Initiative soziale Marktwirtschaft anzuhören, um zu sehen, wo sie stehen und wie sie denken. Es gibt nichts Besseres, als seinen Gegner verstehen zu können und am Ende vielleicht sogar einen Punkt mit ihm zu finden und gemeinsam zu gewinnen. Denn ich denke, die Energiewende scheitern zu lassen, ist keine Option. Sie zu einem Erfolg zu machen, ist ein gemeinsames Projekt, und da darf man auch keine Scheu haben, mit Leuten zu reden, die man vielleicht gar nicht so sehr mag.