Vor 30 Jahren auf den Tag genau befand sich der Autor dieses Blogs in der Illegalität. Juristisch betrachtet war er ein Feind des Staates, Rechtsverletzer und Mob. In Dresden trieben die Vopos tausende Demonstranten vor sich her, in einen Kessel am Fetscherplatz, um sie anschließend zu verhaften; sprich: „zuzuführen“.
Der Sack war schon zu, die Robur-LKW mit Pritsche stießen bereits rückwärts in die Menge, um die Verhafteten aufzuladen. Da rettete sich der seinerzeit noch jugendliche Autor mit einem Hechtsprung („Judorolle“) durch den Polizeikordon.
Nicht um zu fliehen, sondern um weiterzumachen: Unmittelbar danach fand er sich beim Sitzstreik am Dresdener Hauptbahnhof wieder. Dieses Mal würde es kein Entrinnen geben: Der Platz war von mehreren Hundertschaften mit Hunden abgeriegelt. Auch hier standen die LKW schon bereit, warteten die Büttel im Spalier mit Gummiknüppeln, um die Verhafteten Spießruten laufen zu lassen. Denn solche Zusammenrottungen bedrohten die öffentliche Ordnung, sie waren gegen die Gesetze der DDR.
Der Dialog hatte begonnen
Doch es kam anders. Am Abend des 8. Oktober 1989 änderten die SED-Funktionäre der Stadt ihre Politik. Statt noch mehr prügeln zu lassen, zogen sie die Vopos ab und ließen 20 Vertreter der Demonstranten wählen. Diese sogenannte „Gruppe der Zwanzig“ erschien am Folgetag im Rathaus zum ersten Runden Tisch der Wende in der DDR. Der Dialog hatte begonnen.
Der neue Politikstil verhinderte Blutvergießen, kostete die SED jedoch Macht und Staat. Deutschland gewann seine Einheit, und die Rechtsbrecher vom Herbst 1989 gelten heute als Helden.
Der Unmut der Leute
Die Wende vor 30 Jahren bezog ihre Dynamik aus zwei Faktoren: Den Unmut der Leute über die unglaublichen Umweltsünden der ostdeutschen Industrie, namentlich in der Braunkohle und in der chemischen Industrie. Und dem Zorn über die fortwährende Einschränkung der Bürgerrechte, über die Ausbürgerung vieler Dissidenten und die Machenschaften des Sicherheitsapparates – nicht nur der Staatssicherheit. Die DDR siechte dahin, als wäre der Himmel aus Blei. Alles schien beim Alten zu bleiben, obwohl sich die Welt weitergedreht hatte. Mit jedem neuen Tag. Und die Greise in Ostberlin machten so weiter wie bisher.
Der neue Aufstand des Bürgers
Derzeit erleben wir erneut den Aufstand des Bürgers, vor allem der Jugend. „Fridays for future“ findet bereits seine Fortsetzung in „Extinction rebellion“, einer neuen Form des zivilen Ungehorsams, der am 7. Oktober in Berlin wichtige Knotenpunkte lahmlegte. Die Räumung durch die Polizei hält zur Stunde an, viele Demonstranten haben sich angekettet.
Wieder ist es der Unmut über die Klimasünden und die Wut über unfähige Politiker, die den Klimawandel irgendwie nicht ernst nehmen, die Probleme kleinreden und ihre eigene Untätigkeit mit heuchlerischen Reden bemänteln.
Damit steht die bundesdeutsche Demokratie vor einer ähnlichen Herausforderung wie die Nicht-Demokratie in der DDR: So kann es auf keinen Fall weitergehen! Wenn die politische Kaste versagt, fordert sie den Bürger heraus. Genau das geschieht, und deshalb ist der Aufstand der Jungen - unterstützt von vielen „Alten“ - gerechtfertigt und notwendig. Er ist bestimmt nicht leise und unauffällig, sondern er fordert und schreit, wie wir es vor drei Jahrzehnten taten. Erneut sind Ruhe und Ordnung in Gefahr, erneut schickt der Staat die Polizei – anstatt politisch zu handeln.
Die Zeichen der Zeit verkannt
Zu Zeiten der Wende gab es in der DDR eine aufstrebende Gesangstruppe, Keimzeit genannt. Sie dichtete seinerzeit:
Irre ins Irrenhaus,
die Schlauen ins Parlament,
selber schuld daran,
wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt.
Offenbar haben die Politiker der Groko in Berlin die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt! Der sogenannte Kohleausstieg und das sogenannte Klimapaket sind Rohrkrepierer, sind Murks, wie alles, was diese Regierungskoalition in den vergangenen Legislaturperioden zum Klimaschutz abgeliefert hat. Was sie zur Armutsbekämpfung, was sie zur Altersarmut, zur Pflege, zum Lehrernotstand an den Schulen und so weiter abgeliefert hat.
Die Kritik an der zögerlichen Klimapolitik kommt von allen Seiten, sogar aus konservativen Kreisen der Industrie, aber die Merkels, Altmaiers und Scheuers wursteln so weiter, als sei der drohende Klimakollaps ein theoretisches Problem.
Im Grunde genommen verhalten sie sich wie Honeckers Politbüro, das mit Glasnost und Perestroika nicht umzugehen wusste. Das von der neuen Welt überfordert war. Schon damals richteten sich die Demonstrationen gegen die Braunkohle und die Mondkrater in der Lausitz, gegen sauren Regen und saure Böden, gegen Abgase und die Vergiftungen durch die chemische Industrie. All diese Probleme blieben unerledigt, bis auf den heutigen Tag.
Nichts kapiert
Die Grünen kritisieren das Klimapaket, ebenso die Wissenschaft, die Industrie, ja sogar Parteigenossen aus SPD und Union. Dennoch hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nichts besseres zu tun, als sich für den „kleinen Mann“ an die Brust zu werfen: Klimaschutz darf nicht wehtun, und er darf nichts kosten. Wir müssen auf die Geringverdiener achten.
Hat der Mann noch nicht kapiert, dass der Klimawandel in erster Linie die unteren Schichten der sozialen Pyramide bedroht? Hat er noch immer nicht verstanden, dass es fortan keine Sozialpolitik mehr ohne Klimapolitik geben kann? Dass unser Wohlstand im Angesicht der globalen Katastrophe nicht mehr zu halten sein wird, wenn wir nicht sofort energisch umsteuern?
Peter Altmaier weiß es besser, aber er lügt. Er lügt öffentlich und handelt wider besseren Wissens. Was unterscheidet ihn eigentlich noch von Erich Honecker, Günter Schabowski und der ganzen Bagage aus Ostberlin? Nur dies: Noch darf er auf seinem Stuhl sitzen.
Jetzt energisch umsteuern!
Energisch umzusteuern, diese Chance hatte das Politbüro der SED zu lange verschlafen. Deshalb hat es der Volkszorn hinweg gefegt. Doch die Braunkohle blieb. Das Problem wurde von den neuen Eliten in Brandenburg, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin einfach ausgesessen. Mächtige wirtschaftliche Interessen standen und stehen hinter den Dreckschleudern. Jetzt wäre die Zeit, energisch umzusteuern. Um die Deutschland AG in ruhigere Fahrwasser zu bringen, sie krisenfest und zukunftsfähig zu machen.
Aus dem Ende der DDR haben wir gelernt: Dass die menschliche Zivilisation zu viele Treibhausgase, zu viel Müll und zu viele Gifte in die Umwelt ablädt, ist offenbar kein ideologisches Phänomen. Der real-existierende Sozialismus ist verblichen, Friede seiner Asche. Die Umweltprobleme sind geblieben, und sie drängen immer mehr.
Die Zeit ist reif
Zurück ins Jahr 1989: Tausende, Hunderttausende gingen in der DDR auf die Straße, warfen ihre Ängste ab. Weil die Zeit dafür reif war. Und genauso ist es mit den Klimaaktivisten heute, egal, welchen Alters. Die Zeit ist reif für den neuerlichen Aufstand der Menschen in diesem Land. Denn jetzt muss das politische System beweisen, dass es die drängenden Probleme zu lösen vermag. Ansonsten ist es historisch überlebt, muss abtreten.
Allerdings gibt es zur Demokratie keine Alternative. Aber es gibt Alternativen für einen bestimmten Politikstil, für die großen Parteien, die der rasanten Erosion unterliegen. Die SPD befindet sich bereits im freien Fall, die Unionsparteien werden – wenn sie so weiter machen – sehr bald gleichfalls abstürzen. Die miserablen Umfragewerte für AKK kündigen diesen Trend an.
Der Druck von der Straße
Die Zeit ist reif: Ökologie, Wirtschaft und Sozialstaat gehören zusammen. Je länger die politischen Entscheidungsträger mit beherzten Maßnahmen warten, desto stärker wird der Druck der Straße. Noch sind die Proteste friedlich, werden mit Humor vorgetragen und mit Argumenten. Wenn sich weiterhin nichts tut, müssen sie zwangsläufig an Schärfe zulegen.
Die Klimadebatte ist nun endlich in der Gesellschaft angekommen. Es denkt in Deutschland, und das ist gut. Der Michel will nicht länger Schlafmütze sein. Willkommen im nächsten Wendeherbst, willkommen im vereinten Deutschland!