Russland ist riesig, geheimnisvoll und verschlossen. Kein Land auf dieser Welt ist so vielgestaltig und überraschend. Allein seine Größe: 17 Millionen Quadratkilometer – das flächengrößte Land der Erde. Vier Millionen Quadratkilometer liegen in Europa, 13 Millionen im asiatischen Teil. Rund 144 Millionen Einwohner verteilen sich in einem Land, das so groß wie Europa und Australien zusammen ist. Davon leben rund 30 Millionen Menschen in den zehn größten Städten, mit Moskau an der Spitze (zwölf Millionen Einwohner). Von der polnischen Grenze bis nach Wladiwostok sind es 9.000 Kilometer, von der arktischen Neuwelt (Nowaja Semlja) bis zur südlichen Grenze immerhin 4.000 Kilometer.
Veraltete Stromwirtschaft
Diese kaum vorstellbaren Ausmaße stellen das moderne Russland vor enorme Herausforderungen. Denn das Gros der Stromproduktion beispielsweise geht auf die gigantischen Aufbauprogramme der Sowjets zurück. „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, hatte Lenin schon 1920 erklärt. Die Sowjets waren es, die riesige Ölfelder erschlossen, gigantische Wasserkraftwerke an den sibirischen Flüssen aus dem Lehm stampften und die Atomtechnik nach vorn trieben. Unter den Zaren wurden lediglich einige Kohlegruben ausgebeutet.
Fast 100 Jahre nach dem Sturm auf das Winterpalais im November 1917 hängen der industrielle Fortschritt und der Wohlstand in Russland entscheidend von der Energieversorgung ab. Nach einer schweren Krise Ende der 90er-Jahre stieg die Stromproduktion wieder an. Sie erreicht derzeit rund 1.200 Terawattstunden. Zwei Drittel dieser Energie stammen aus Kraftwerken, die Öl, Gas oder Kohle verbrennen. Ein Fünftel kommt aus sibirischer Wasserkraft, ein Sechstel aus Atommeilern.
Kein Boom ohne saubere Energie
Im Grunde genommen hat Russland dieselben Probleme wie China, mit einer wichtigen Ausnahme: Seine Bevölkerung stagniert, Fläche ist ausreichend vorhanden. Mit dem Preisverfall der Photovoltaik rückt die Sonne nun zunehmend ins Blickfeld der Energiemagnaten. Photovoltaik ist für die Russen keine Neuheit. Schon 1971 entstand in Krasnodar die Firma Saturn, die Solarmodule für die Raumfahrt produzierte.
Ab 2009 kam die Photovoltaik zunehmend für zivile Anwendungen ins Gespräch. Zunächst hofften die Russen, über den Rohstoffmarkt für Polysilizium ins Geschäft einzusteigen. Das russische Unternehmen Hevel investierte rund 275 Millionen US-Dollar (196,5 Millionen Euro) in ein Werk für Polysilizium, auch die Firma Nitol steckte 300 Millionen Euro in die Fertigung von Silizium. Mit dem Preisrutsch im Verlauf des Jahres 2010 waren beide Vorhaben ruiniert. Langsam, nur langsam kam ein eigener Markt in Gang, in dem sehr kleine Solargeneratoren dominierten.
Unablässig lockt die Sonne
Doch zunehmend gewinnt der russische Photovoltaikmarkt an Fahrt. Denn theoretisch könnten Solargeneratoren bis zu 101 Gigawatt leisten. Die jährliche Sonneneinstrahlung auf russisches Territorium summiert sich auf 1.870 Terawattstunden. Bis in den Kreml hat es sich herumgesprochen, dass Sonnenstrom preiswerter zu erzeugen ist als Strom aus neuen Gaskraftwerken oder neuen Atommeilern. Deshalb hat die Regierung in Moskau mehrere Programme aufgelegt, um Solarparks zu fördern. Ein zweites Ziel ist der Aufbau einer russischen Solarindustrie.
Wer einen Solargenerator errichten will, muss alle Teile aus einheimischer Produktion beschaffen. „Diese strengen Vorschriften schrecken viele ausländische Investoren ab“, urteilt Alexander Nickel. Der gebürtige Russland lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Ständig ist er unterwegs, um die jungen Märkte in Weißrussland und Russland für Schletter zu entwickeln. „Der Markt ist sehr kompliziert und nicht für jedermann zugänglich“, resümiert er.
Frischer Wind aus dem Kreml
Die sonnigsten Regionen befinden sich am Nordrand des Kaukasus oder in der Gegend um Krasnodar. Einige Gebiete im Süden des Landes haben vergleichbare Sonneneinstrahlung wie Südfrankreich und Mittelitalien. In Südsibirien am Baikalsee strahlt die Sonne ähnlich intensiv wie über Spanien.
2009 war ein Meilenstein in der russischen Photovoltaik: Präsident Wladimir Putin verkündete das Ziel, dass bis 2020 rund 4,5 Prozent der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien kommen sollen. Das entspricht 22 Gigawatt aus Wasserkraft, Windkraft, Photovoltaik und Geothermie. Seitdem haben russische Firmen massiv in Photovoltaik investiert. Renova und Lukoil beispielsweise haben die ersten Solarparks gebaut. Am Nordrand des Kaukasus entstand ein „Silicon Valley“, in dem die Russen eigene polykristalline Zellen und Module herstellen. Der Zubau bis 2020 soll insgesamt 1,2 Gigawatt erreichen.
Ausländische Investoren sind Zaungäste, ohne russische Partner läuft nichts. Bisher wurden Solarparks nur an zehn russische Unternehmen vergeben. Wer in Russland ein Solarkraftwerk bauen will, muss nach russischen Regeln mitspielen. Denn sehr selbstbewusst gehen die Russen daran, eine eigene Solarindustrie aufzubauen. Aus diesem Grunde hat beispielsweise Schletter alle Kalkulationshilfen und Berechnungsvorlagen ins Russische übersetzen und an russische Normen anpassen lassen. Unablässig ist Alexander Nickel unterwegs, um neue Projekte und Partner zu eruieren. Das ist Pionierarbeit, im wahrsten Sinne des Wortes.
Platzhirsch auf dem russischen Solarmarkt ist die Firma Hevel, eine Tochter des Staatskonzerns Rusnano. Hevel beherrscht rund 65 Prozent des jährlichen Zubaus. Aussichtsreich im Geschäft ist Avelar Solar Technology, eine Tochtergesellschaft der eidgenössischen Avelar-Gruppe. Sie kooperiert mit Hevel und erhielt jüngst einige Zuschläge bei Ausschreibungen im September.
Putin schaltet sich per Video zu
Besonders deutlich wurde Russlands neues Interesse an der Photovoltaik, als Präsident Putin im Oktober höchstselbst einen Solarpark einweihte. Per Videokonferenz drückte er aufs Knöpfchen, um fünf Megawatt in der Gemeinde Kosch-Agatsch im Altai in Betrieb zu nehmen.
Es ist das erste von fünf Solarkraftwerken, die insgesamt 45 Megawatt leisten sollen. „Mit der Inbetriebnahme der Solaranlagen in der Gemeinde Kosch-Agatsch beginnt eine neue Etappe in der russischen Energiewirtschaft“, sagte Anton Usatschew, Direktor des russischen Solarverbands.
Alexander Nickel von Schletter war selbst vor Ort, weil die Bayern über einen russischen Zulieferer die Untergestelle des Megawattparks im Altai geliefert haben. „Die Paneele kamen von SAG, die Gestelle von uns“, erzählt er. „Das größte Problem bestand darin, seriöse Lieferanten in Russland zu finden, um die Konstruktionen nach unseren Vorgaben zu fertigen, von den Rammfundamenten bis zur kleinsten Schraube.“ Sorgsam leitete er die Monteure an, die bislang wenig Erfahrungen mit der neuen Technik haben.
Eine lange, erfolgreiche Suche
Zuvor hatte Alexander Nickel etliche Fabriken besucht, mit vielen Leuten gesprochen. Endlich war ein geeigneter Zulieferer gefunden. Der Aufwand hat sich gelohnt, wie der Solargenerator in Kosch-Agatsch beweist. Damit stößt Russland in neue Dimensionen der Photovoltaik vor.
Präsident Putin selbst hob im Altai die Bedeutung erneuerbarer Energien insbesondere für schwer zugängliche Gegenden hervor. Dabei betonte er zwar, dass die „fossilen Brennstoffe auch in Zukunft noch die gleiche Bedeutung wie heute“ hätten und dass die Entwicklung der Atomenergiewirtschaft weiterhin „einen hohen Stellenwert“ einnehme. Doch „für schwer zugängliche Regionen ist die Nutzung alternativer Energieformen, vor allem der erneuerbaren Energiequellen, eine außerordentlich wichtige Entwicklungsrichtung der Energiewirtschaft“, betonte er. Die Anlage in Kosch-Agatsch sei „ein sehr gutes Beispiel dafür, was wir tun müssen und wie wir es tun müssen“.
Mehr als 300 Sonnentage im Jahr
Die Gemeinde Kosch-Agatsch wurde ausgewählt, weil es hier mehr als 300 Sonnentage pro Jahr gibt. Die innerrussische Republik Altai will mithilfe der Solaranlagen ihr Energiedefizit verringern. Das neue Kraftwerk kann über 1.000 Haushalte versorgen.
Für die beteiligten Firmen aus Deutschland und ihre russischen Partner ist es eine wichtige Referenz. „Für das kommende Jahr haben wir bereits 20 Megawatt als feste Aufträge“, erläutert Alexander Nickel. „Mal schauen, was in den nächsten Wochen noch herein kommt. Vielversprechende Anfragen gibt es schon.“ Für ihn war 2014 ein wichtiges Jahr, „der Anfang ist gemacht.“ Wie sich der Solarmarkt in den kommenden Jahren entwickelt, „muss man abwarten. Auch hat sich der Wechselkurs verschlechtert, alles wird teurer.“ Und alles hängt am Tropf des Staates.
Die russische Stromproduktion liegt faktisch in seiner Hand. Er hält 53 Prozent der Anteile am Energiekonzern EES Rossii, der wiederum 70 Prozent der Stromproduktion kontrolliert. 91 Prozent des Strommarktes werden von staatlich festgelegten Preisen bestimmt. Dennoch wird der Strom immer teurer.
Die Strompreise steigen
In einigen südlichen Regionen bewegen sich die Preise für private und gewerbliche Kunden in der Niederspannung und der Mittelspannung zwischen 16 und 24 US-Cent, also zwischen 11,5 und 17 Eurocent. Alle Haushalte sind an die öffentlichen Stromnetze angeschlossen. Der Eigenverbrauch von Solarstrom ist gesetzlich noch nicht geregelt. Wer noch keinen Stromanschluss hat, bekommt immerhin 550 Rubel (elf Euro) pro 15 Kilowatt solare Anschlussleistung vom Staat subventioniert.
Nach Schätzungen des Solarverbandes werden in Russland bis 2020 rund 150 Milliarden Rubel (drei Milliarden Euro) in neue Solarkraftwerke investiert. Eine Bremse ist der Mangel an günstigen Krediten, die Finanzierungskosten sind in Russland sehr hoch.
So sehr sich die Russen abschotten, ganz frei von ausländischen Einflüssen ist der Photovoltaikmarkt nicht. Im Südosten scharren die Chinesen mit den Hufen, um den russischen Solarmarkt zu erobern. Auch deutsche Firmen sind verstärkt in Russland aktiv, wenn auch auf kleiner Flamme.
Zudem kehren russische Firmen, die bislang in Deutschland aktiv waren, in die Heimat zurück. So wird das russische Unternehmen Helios Ressource in Mordwinien eine neue Modulfabrik errichten. Mordwinien befindet sich zwischen Moskau und der Wolga. Bisher betrieb die Firma in der Moskauer Vorstadt Mytischtschi ein Werk für Siliziumingots und Wafer. Sie wurden nach Deutschland exportiert, wo das Tochterunternehmen HR Photovoltaic Industries GmbH die weitere Verarbeitung übernahm.
Mit dem Einbruch auf dem deutschen Solarmarkt beschloss das Management, die Geschäfte in Deutschland einzustellen. „Seit 2008 wurden die Subventionen zurückgefahren, außerdem drängten chinesische Hersteller auf den europäischen Markt“, sagt Alexander Orsa, der geschäftsführende Gesellschafter von Helios Ressource. „Die Produkte von HR Photovoltaic Industries waren plötzlich kaum noch rentabel.“
Billige Energie für Silizium
Der neue Standort fertigt Module mit einer Gesamtkapazität von bis zu 60 Megawatt pro Jahr. In Mordwinien wird vor allem Silizium billiger produziert, weil die Energie günstiger ist als in Moskau oder in Deutschland. Etwa die Hälfte der Produktionskosten für Ingots entfällt auf die Energiekosten. „Wir werden unsere Paneele zum gleichen Preis herstellen wie die chinesischen Hersteller“, stellt Orsa in Aussicht. Im kommenden Jahr könnte die Produktion auf 200 Megawatt steigen.