Borstentier, Räumschiff und Expresso. So heißt unter anderem das Kundenklientel mit Potenzial – jedenfalls wenn es um die Wasserstoffnachfrage ab 2030 in Berlin geht. Gemeint sind allen voran die Nutzfahrzeuge der Berliner Stadtreinigung (BSR), die für ihr originelles Marketing bekannt ist und mehrfach ausgezeichnet wurde, sowie die Flotte der Berliner Feuerwehr. Zusammen mit der Umrüstung des Heizkraftwerkes Marzahn auf einen Wasserstoffbetrieb bieten diese Änderungen das größte Potenzial für eine Wasserstoffnutzung. „Diese Vorhaben summieren sich auf einen potenziellen Wasserstoffverbrauch von rund 6.500 Tonnen“, heißt es in der aktuellen Studie der Initiative H2Berlin, die die Wasserstoffpotenziale der Hauptstadt identifiziert hat. Denn diese liegen demnach vor allem in der Wärmeversorgung und im Verkehrssektor.
Forschungsfabrik Hyfab startet
Wasserstoff und Brennstoffzellen sind die Kombination für eine nachhaltige Mobilität. Lkw, Busse, Seeschiffe oder Züge könnten so emissionsfrei unterwegs sein. Um die Brennstoffzellen in großen Stückzahlen zu bauen, ist aber vorerst noch Forschung nötig. Deshalb entwickelt das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) im Projekt Hyfab automatisierte Verfahren zur Fertigung und Qualitätssicherung für Brennstoffzellen-Stacks. Das Wirtschaftsministerium von Baden-Württemberg fördert das mit 10,5 Millionen Euro aus dem Staatssäckl. Die Forschungsfabrik soll laut ZSW Anfang 2022 in Betrieb gehen.
Aktuelle Zahlen zeigen den dringenden Handlungsbedarf: Der Straßengüterverkehr in Deutschland stößt jährlich etwa 50 Megatonnen Kohlendioxid aus. Für die Hälfte davon sind die rund 250.000 Lkw mit einem Gewicht über 26 Tonnen verantwortlich. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, muss der Verkehr allerdings bis 2050 nahezu emissionsfrei sein. Lkw mit Wasserstoffantrieb bieten hier eine Lösung, um den Güterverkehr auf der Straße zu dekarbonisieren. Das Fraunhofer ISI hat nun errechnet, dass im Jahr 2050 ein Netz aus 140 Tankstellen für Brennstoffzellen-Lkw reicht, um deren Wasserstoffbedarf zu decken. Die Kosten belaufen sich demnach auf rund neun Milliarden Euro pro Jahr.
Die Elektrolyse von Wasser zeichnet sich immer deutlicher als eine Schlüsseltechnologie der Energiewende ab. „Sie wandelt erneuerbaren Strom in grünen Wasserstoff, der dann dem Verkehr und anderen Sektoren als klimaneutraler Energieträger oder Rohstoff zur Verfügung steht“, erklärt Marc-Simon Löffler. Er leitet das Fachgebiet Regenerative Energieträger und Verfahren am ZSW. Insbesondere Industrien für Stahlherstellung, Chemie und bei Raffinerien eröffnet erst grüner Wasserstoff den Weg zur Klimaneutralität“, erklärt Löffler. Viele Länder, vor allem Japan, China und die USA, drängen nun in diesen Zukunftsmarkt.
Schnell Elektrolyseleistung aufbauen
Die Nachfrage nach Elektrolyseuren wird zeitnah stark steigen, sagen Marktanalysten. Denn der Wasserstoff muss irgendwo herkommen. Am besten aus dem Strom von Wind- und Solarparks. Die Bundesregierung hat im Sommer ihre Wasserstoffstrategie vorgestellt. Demnach sollen fünf Gigawatt Elektrolyseleistung bis 2030 entstehen. Die Wasserstoffbranche hält das für viel zu wenig.
Die Bundesregierung schätzt für den heimischen Markt einen steigenden jährlichen Bedarf an Wasserstoff von 55 Terawattstunden bis 2030. Dieser Zuwachs an Wasserstoff sollte unter Berücksichtigung der Klimaziele der Bundesregierung mit Ökostrom erzeugt werden. Allerdings wäre dafür eine Mindestinstallation von 20 Gigawatt bis 2030 erforderlich.
Im Juli 2020 verabschiedete auch die EU-Kommission eine eigene Wasserstoffstrategie. Sie zielt darauf ab, den Aufbau von Elektrolyseuren mit einer Leistung von sechs Gigawatt bis 2024 zu unterstützen. Der niederländische Netzbetreiber Alliander gehört zu den Pionieren. Der Netzbetreiber will nun genauer prüfen, ob die lokale Wasserstoffproduktion dem Erzeugungsprofil einer Solaranlage folgen kann. Baywa r.e. und ihre niederländische Tochtergesellschaft Groenleven haben dafür Mitte Oktober einen Vertrag mit Alliander über den Betrieb des Wasserstoff-Pilotprojekts Sinne-Wetterstof unterzeichnet. Dieses Projekt soll voraussichtlich Ende 2021 betriebsbereit sei. Der Strom wird dann aus einem angrenzenden 50-Megawatt-Solarpark kommen. Konkret untersucht Alliander, wie die lokale und flexible Last eines Elektrolyseurs genutzt werden kann, um Netzüberlastungen zu reduzieren und den Netzausbau für neue Solar- oder Windanlagen zu minimieren.
Wasserstoff wird aber ebenso händeringend für Wärme, Industrie und Lkw gebraucht. Er ist der Stoff für eine klimaneutrale Wirtschaft.
Meine Vision: Matthias Wiget von Eturnity
Die Energiewende ist noch lange nicht geschafft
Was die Photovoltaikbranche bisher erreicht hat, ist beeindruckend. Die Kosten sind in den letzten zehn Jahren um mehr als 70 Prozent gesunken und die Technologie findet in der
Bevölkerung nach einer kleinen Baisse eine breite Akzeptanz. Auch 2020 wird in vielen
Teilen der Welt erneut ein Rekordjahr für die Branche werden.
Jetzt gilt es aber, über diesen Erfolg hinauszublicken. Denn die Energiewende ist noch lange nicht geschafft. Sie geht tiefer als das, was viele Köpfe der Photovoltaikbranche an der Oberfläche sehen. Die Photovoltaik ist eine Branche mit Pioniercharakter. Aber mit ihrem Wachstum wächst auch die Verantwortung.
Kosten weiter senken
Und so wird sich die Solarbranche zukünftig mit den inhärenten Herausforderungen der Technologie auseinandersetzen (müssen). Ich beziehe mich dabei vordergründig auf die folgenden drei Bereiche: Die Lebenszyklus-Kosten werden und müssen parallel zur Abhängigkeit gegenüber staatlichen Förderungen in vielen Ländern sinken. Einen großen Beitrag hierfür leistet auch die zunehmende Digitalisierung, durch die Vertrieb, Administration und After-Sales-Prozesse effizienter gestaltet werden.
Besser ins Energiesystem integrieren
Nur etwa 25 Prozent der Stromerträge einer durchschnittlichen Photovoltaikanlage fallen im Winterhalbjahr an. Genau dann, wenn der Energieverbrauch besonders hoch ist. Die Technologie passt aktuell also nicht sehr gut zur Nachfrage. Diesbezüglich werden verschiedene technologische Möglichkeiten hierfür in den Vordergrund rücken.
Beispiele sind Power-to-X oder das Konzept der Überproduktion, welches vorsieht, so viele kostengünstige Anlagen zu installieren, dass im Winterhalbjahr mit 25 Prozent Ertrag
der Bedarf gedeckt werden kann.
Vertikale Flächen nutzen
Die Schweizer Ingenieure von Basler & Hofmann haben aktuell für die Schweiz ein Szenario erstellt, das es ermöglichte, durch den vermehrten Bau von vertikalen Anlagen (also zum Beispiel auch an Fassaden) den Winterstromanteil des gesamten Anlagenparks auf 36 Prozent zu erhöhen.
Die bessere Integration von Fassaden in Gebäuden wird ein großes Thema werden, denn das wird zukünftig die Rückendeckung in der Architektur für die Photovoltaik stärken.
Ressourceneffizienz und Recycling
Photovoltaik wird in naher Zukunft eine sehr weit verbreitete Technologie sein. Wie bei jeder weit verbreiteten Technologie werden Ressourceneffizienz und Recycling wichtige Punkte auf der Agenda sein müssen.
Wenn wir in diesen Bereichen fortschrittlich weiterarbeiten, dann bin ich zuversichtlich, dass die Photovoltaik ein wichtiger Teil einer nachhaltigen Energiezukunft sein kann und sein wird.
Matthias Wiget ist Geschäftsleiter der Eturnity AG in Chur.
Meine Vision: Paul Grunow vom PI
100 Prozent Vollstrom – in nur zehn Jahren
Der zweite Schritt – mit Speicher-BHKW – um in einem 100 Prozent erneuerbaren und vollelektrifizierten Energiesystem die Lücken zu füllen – in nur zehn Jahren.
Die Vision: Für die noch ausstehende Wärmewende könnten die elektrischen Wärmepumpen (derzeit noch fünf Prozent) um einen kleinen Anteil von Power-to-Wasserstoff-Anlagen ergänzt werden. Diese funktionieren wie Brennstoffzellen-BHKW, nutzen aber zusätzlich die Wasserstoff-Elektrolyse.
20 Prozent der Heizungen erneuern
Nach Berechnungen des PI Berlin wären bereits 20 Prozent Heizungserneuerung durch derartige Speicher-BHKW hinreichend, um ganzjährig stundengenau Regelenergie bereitzustellen zuzüglich des Wasserstoffs für Industrie und Schwertransport. Geheizt wird auf Anforderung, aber gekoppelt an Wasserstoff oder an die Stromerzeugung.
Auch im (finalen) stromgeführten Betrieb würden effizient ungenutzte Wärmeverluste reduziert. Das Umschalten zwischen beiden Betriebsarten wird durch den Einspeisewechselrichter gesteuert – je nach Frequenz- und Spannungslage am Netzknoten. Die Signale kommen so direkt vom Netz und wären verpflichtend für den Betrieb des Speicher-BHKW bei Vergütung des erzeugten Wasserstoffs/Stroms.
Direktsignal statt Digitalisierung
Ein Direktsignal wäre technisch sauberer als die umfassende Digitalisierung des Stromnetzes, weniger riskant und besser akzeptiert. Der Aufbau weiterer Infrastrukturen ist nicht notwendig, wobei das Gasnetz sukzessive umgenutzt wird. Die Anpassung des Gasnetzes an Wasserstoff ist nur ein Rückgriff auf unsere „Stadtgas“-Vergangenheit mit einem Wasserstoffanteil von 51 Prozent. Der Eigentümer oder Vermieter nutzt vor Ort wie gewohnt Wärme aus dem Speicher-BHKW beziehungsweise darf sie weiterhin in Rechnung stellen.
Das Berliner Start-up Home Power Solutions nutzt diesen Ansatz bereits für den Strom- und Wärmebedarf von Ein- und Zweifamilienhäusern, nur mit Photovoltaik und Wasserstofftanks, ganzjährig netzunabhängig.
Das Gasnetz als großer, kollektiver Speicher
Bei der Vernetzung von erzeugungsarmen Stadtgebieten mit erzeugungsstarkem Umland wird aber eine Vergütung der Gasnetz-Einspeisung wichtig. Genauso wie bei Stromknappheit die Vergütung der Stromeinspeisung, die dann fairerweise auch bestehenden Batteriespeichern zustünde.
Immerhin liegt bei den jetzt installierten Solar-Batterie-Systemen im Winter eine
Gigawattstunde Speicherkapazität brach, würden diese nicht teilweise von innovativen Sharing Communities genutzt. Doch anders als das Stromnetz schafft das Gasnetz sowohl räumlichen als auch zeitlichen Ausgleich – als günstiger, großer und kollektiver Speicher.
Energiebürger werden erneut gebraucht
Die Investitionen in Photovoltaik und Wind kamen zum größeren Teil von den Bürgern selbst und waren der wichtigste Treiber für den Erfolg des EEG in Deutschland und weltweit. Wer dabei nur über die Verhinderung von Mitnahmeeffekten nachdenkt, hat die gestellte Aufgabe nicht wirklich verstanden.
Das Engagement der Energiebürger wird erneut gebraucht, um auch den Speichermarkt anzuschieben. 20 Prozent der Heizenergie wird in Mehrfamilienhäusern in den Städten verbraucht. Warum also nicht genau dort Speicher-BHKW zulassen?
Die Großindustrie versagt
Warum der Markt bei uns nicht hinreichend wirkt, siehe das Beispiel Elektromobilität: Wäre VW nicht massiv geschubst worden, und zwar von außerhalb der Politik, wären wir immer noch auf dem Stand von 2015. Zeitgleich missbrauchte VW seine Befreiung von der EEG-Umlage für die firmeneigenen BHKW.
Wenn wir uns nur auf unsere Großindustrie und ihre Geschäftsmodelle verlassen, verschieben wir Innovationen ins Nirgendwo und ernten schädliche Mitnahmeeffekte im großen Stil. Wir brauchen deshalb unbedingt neue Player.
Behutsam und dennoch entschlossen
Die Energiewende braucht den zweiten Schritt und der muss behutsam und doch entschlossen getan werden, wenn ihn unsere Industrie ohne Schubser (wieder) nicht tut. Die Vision vom dezentralen Speicher-BHKW – als eine Möglichkeit – wird der Energieindustrie prinzipiell nicht gefallen, aber den kreativen Start-ups und den investitionsbereiten Energiebürgern schon: erst die Solaranlage auf dem Dach und dann das Speicher-BHKW im Keller – als zweiter Schritt. Politik darf nicht visionär sein, aber war sie es beim EEG nicht schon?
Dr. Paul Grunow ist Geschäftsführer des Photovoltaik-Instituts in Berlin.